29. Oktober 2016

Summertime - tempo d' estate

Die Sommerzeit endet mit  Eindrücken aus dem venezianischen Sommer vor über 60 Jahren. 

David Lean drehte damals "Summertime" und keineswegs nur "balanciert er bisweilen hart an der Grenze des Sentimalen" (Kritik bei Wikipedia), sondern rauscht mitunter voll über die Grenze des Kitsches. 
Egal! Katharine Hepburn ist eine wunderbare verklemmte Mittelschichtsamerikanerin, Rossano Brazzi ein idealer Kurzzeitlover und das Boot fährt die Kurzstrecke durch den Rio Ca' Foscari und Rio novo. 

Und Venedig ist damals wie heute die schönste Stadt auch ohne das Make up, das sie jetzt mancherorts trägt. 






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27. Oktober 2016

L'Aqua Granda 1966 - 2016



Quelle: Archiv Stadt Venedig

Wer in diesen Tagen und vor allem in der nächsten Woche nach Venedig reist, wird mit der Erinnerung an das größte Hochwasser unserer Zeit konfrontiert. Am 4.11.1966 trafen nach mehreren Tagen Dauerregen und Scirocco zwei Hochwasserfluten nacheinander auf die Lagune, ohne dass dazwischen Wasser abfließen konnte. Bei einem Höchstand von 194 cm blieb der Pegel 22 Stunden lang bei über 110 cm. Die Lagune war von Energie und Kommunikation abgeschnitten, Pellestrina musste komplett evakuiert werden.

Solche Flutkatastrophen erlebten in der 1500jährigen Geschichte Venedigs schon frühere Generationen, aber für unsere Zeit war die Dauer und Bedrohlichkeit neu, die Zerstörungen in der Stadt und der Lagune von unerwarteten Ausmaßen. 
Spätestens diese Katastrophe machte klar, dass der physische Schutz der Lagune und der materielle Erhalt des venezianischen Kulturerbes mehr Forschung und vor allem Investitionen benötigt. Die UNESCO rief zu Rettung Venedigs auf (siehe: Documents "Appeal of 2nd December 1966"), Gesetze wurden geschaffen, naja - im Laufe der Jahre und auch nicht unumstritten in ihrer Wirksamkeit. Venezianische, italienische und ausländische Stiftungen sammelten Mittel für Restaurierungsprojekte und Initiativen zum Erhalt von Gebäuden und Kunstschätzen wurden gegründet, die bis heute erfolgreich arbeiten. 

Save Venice
Venice in Peril 
Poorters van Venetie
Venetian Heritage
Comité Francais pour la Sauvegarde de Venise
Venice International Foundation
Amici dei Musei e Monumenti Veneziani
Österreichisches Komitee 'Venedig lebt'
Fondazione Svizzera 'Pro Venezia'
Pro Veneziakomitéen Denmark
Auch das Deutsche Studienzentrum in Venedig wurde in der Folge der Flutkatastrophe von 1966 gegründet, vollständig ist diese Liste sicher nicht; und immer wieder trifft man in Venedig auch auf privat finanzierte Restaurierungsinitiven (siehe z. B. Blogeinträge zur Corte Nova).

Die Bedeutung und Leistungen dieser Institutionen kann man gar nicht hoch genug wertschätzen, denn im Gegensatz zu den vielen Restaurierungen und Umbauten der letzten Jahrzehnte zum Zweck wirtschaftlicher Nutzung (vom Molino Stucky zum Fondaco dei Tedeschi, um nur 2 zu nennen) geht es ihnen um Denkmalschutz und Erhalt des venezianischen Erbes selbst.


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In diesen Tagen gibt es in Venedig viele Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des 4.11.1966, manche sind für TouristInnen, geschweige denn Kurzbesuche, nicht geeignet. Diverse Fachtagungen zum Beispiel, die ich in meine Liste nicht aufnehme. 

25.10.-27.11. Biblioteca Marciana Ausstellung Venezia 1966-2016. (Und weitere Veranstaltungen im November-Kalender.) Dazu auch: Pressemitteilung der UNESCO.
Am Samstag, 12.11., 11:30 Uhr kostenlose Führung durch die Ausstellung.


28.10.-27.11. Biblioteca Nazionale Marciana Ausstellung "Venezia 1966-2016 - Vom Ausnahmezustand zur Wiederbelebung des Kulturerbes. Geschichten und Bilder aus den Archiven der Stadt". 

29.10. 10:30-16:00 Uhr Arsenale: "Offene Tür" für alle, neben einer Tagung mit Ausstellung und Vorträgen zum Hochwasser 1966 und extremen Wettereignissen in Folge des Klimawandels. Eintritt frei. Arsenale Nord, Tesa 102, Haltestelle Bacini Linien 4.1.-2, 5.1-2.

29.10.-4.11. Madonna dell'Orto, Kreuzgang: Kleine Fotoausstellung von Venice in Peril zur Restaurierung von Kirche und Kreuzgang nach dem Hochwasser 1966. Eine neu aufgelegte Veröffentlichung zu den Restaurationen wird zum Sonderpreis von 20 € verkauft (ist auch online zu erwerben "Restoring Venice - Church of the Madonna dell'Orto" ital./engl.). Wer den Kreuzgang, der in Privatbesitz und normalerweise verschlossen ist, noch nicht kennt, sollte die Gelegenheit nutzen.

29.10.-9.11. Sala San Leonardo in der Ex-Kirche S. Leonardo: Fotoausstellung "1,94 acqua alta. 1966-2016 Ricordi e Speranze".  Haltestelle S. Marcuola.

2.11.-8.1.2017 Wanderausstellung "L'Aqua Granda del 1966 dall'archivio dell Gazzettino" im Teatro La Fenice, im Rathaus Ca'Farsetti, im Piccolo Museo Laguna Sud in S. Pietro auf Pellestrina. Eintritt frei.

3.11. 18:00 Uhr Fondazione Querini Stampalia: "Voci dall'Aqua Granda" Lesung/theatralische Aufführung, die auch als Videoproduktion auf YouTube zur Verfügung gestellt wird. Eintritt frei. Haltestelle S. Zaccaria 

3.11.-31.12 Museo Correr:  1966-2016. Dall'Aqua Granda al MOSE. Sonderausstellung, im Eintrittspreis für das Museum enthalten. Haltestelle Vallaresso und S. Marco

4.11. 18:00 Uhr Basilica di San Marco: Gottesdienst zum Gedenken an die Hochwasserkatastrophe mit dem venezianischen Patriarch Francesco Moraglia (ich vermute, mit musikalischer Umrahmung).

4.-13.11. Teatro La Fenice Weltpremiere der Oper "Aquagranda" von Filippo Perocco. Englische Untertitel. 
Ergänzung 18.11.: Die Aufführung steht mittlerweile auf Culturebox. Französische Untertitel. Bitte Geduld, es kommen zunächst 3 20sekündige Werbeeinblendungen, dann erst geht die Oper los.

Siehe dazu auch:



4.11.-8.1.2017 Olivetti am Markusplatz Termine "L'acqua e la Piazza"  Haltestelle Vallaresso und S. Marco

Darüber hinaus gibt es sicher noch weitere Veranstaltungen, z. B. Kirchenkonzerte o. ä., von denen man über lokale Aushänge in den Stadtteilen erfahren kann.

Social Wall Aquagranda

Beeindruckende Fotos in der Chronik Aqua Granda von der Website der Stadt Venedig




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23. Oktober 2016

Marathonbrücke


Heute, Sonntag 23.10. findet der Venice Marathon statt. Alle Brücken auf der Strecke im Centro Storico sind mit Rampen versehen und zwischen Dogana und Giardini Reali ist eine temporäre Brücke installiert. 




Wer auf ZEITRAFFER klickt, kann verfolgen, wie diese Brücke gestern aufgebaut wurde, die Pontons, das Geländer, die Verkleidung des Geländers. Und natürlich den Verkehr. Sehr sehr schnell allerdings. Wer morgen auf Zeitraffer klickt, kann den heutigen Tag und die MarathonläuferInnen in einer Minute vorbeiflitzen sehen.

Die Brücke wird nach dem Marathon sehr schnell wieder abgebaut. Vermutlich heute noch. Die meisten Brückenrampen entlang der Ufer in Dorsoduro, San Marco und Castello bleiben erhalten, zur Freude von mobilitätseingeschränkten Menschen und einheimischen Müttern mit Kinderwagen, die für jeden Weg von A nach B einen Plan mit den wenigsten Brückenüberquerungen im Kopf haben. 
TouristInnen finden Hinweise unter Venezia accessibile, auch in F und E. Zu weiteren Welt- oder europäischen Sprachen kann sich die Verwaltung der schönsten Stadt bisher leider nicht durchringen. 


Fotos vom Venice Marathon 2013


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18. Oktober 2016

'Venedig, Stadt der Künstler' in Hamburg


Wassily Kandinsky: Erinnerung an Venedig 4
Quelle: Website Bucerius Kunstforum
Eine Ausstellung in Hamburg, die ich selbst noch nicht gesehen habe. Aber eine ganze Reihe der Exponate, die dort gezeigt werden. Denn ein Teil der Werke stammt natürlich aus venezianischen Museen oder sie waren als hochkarätige Gäste in venezianischen Ausstellungen zu sehen. 

Wie z. B. der wunderbare "Doge Leonardo Loredan" aus dem Museo Correr von Vittore Carpaccio, um 1501-1505, mit der Insel S. Giorgio Maggiore im Hintergrund, vor der Neugestaltung durch Palladio. Siehe unten. 






Gefundene Meinungen zur Ausstellung





Wenn es mit der Hamburgreise nicht klappt, auch zu sehen im Katalog.





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13. Oktober 2016

Sport zum Wochen- und Saisonende


An diesen Wochenende verabschiedet sich die Sportsaison 2016 mit einer Stadtwanderung, mit Rudern und Segeln.

Gemeinsam in der Nacht durch die schönste Stadt wandern, als Zeichen der Solidarität mit den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer Italien erreichen. Eine schöne Idee, die in 11 weiteren italienischen Städten am 14.10. um 22 Uhr hoffentlich große Beteiligung findet. Jede/r kann mitmachen, die ca. 3,5 km lange Wanderung "Stay human keep running - Camminata di solidarietà" startet am Rio terà San Leonardo und führt über die Rialtobrücke nach S. Polo. Wer laufen will, läuft, wer spazieren gehen will, seine Kinder oder Großeltern mitbringt, spaziert. Vielleicht auch eine schöne Gelegenheit, Gespräche anzuknüpfen. Wer sich einschreiben will, kann das tun- aber unbürokratisch mitwandern durch die venezianische Nacht geht auch.

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Die letzte Segelregatta des Jahres ist zu sehen im Bacino San Marco, organisiert von der Compania della Vela, die Veleziana 2016. 8 Großsegler, von denen jeder für eines der großen Hotels in Venedig steht, sind sicher ein beeindruckendes Bild. Das gibt es öfter in Venedig, aber wann ist man schon mal passend in der Stadt? Wer das am kommenden Wochenende nicht ist, kann sich am Samstag, 15.10 um 16:00 Uhr und am Sonntag, 16.10. um 11:00 Uhr trösten mit dem Blick auf das Geschehen durch die Webcams.




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Die Rudersaison ist eigentlich vorbei, es gibt aber einen letzten kleinen Wettkampf auf dem Canale di Cannaregio, den "Trofeo Citta di Venezia", am Sonntag, 16.10.
Es beginnt um 10:00 Uhr mit einem 'Corteo', einer Parade der traditionellen Ruderboote der Rudervereine. Von 10:15 bis ca. 11:00 Uhr finden die Wettkämpfe statt, startend am Ende des Canale beim ehemaligen Schlachthof, heute einer der Sitze der Universität Ca' Foscari und endend beim Palazzo Labia, dem Sitz der Rai, neben der Guglie-Brücke. Von deren Geländer aus man das Ganze sicher am besten verfolgen kann, wenn man einen Platz findet. Oder man sitzt in einer der vielen Bars und Trattorien entlang des Ufers. Bei der kurzen Strecke des Wettkampfes gibt es sogar einen Lauf für Kinder unter 14. Keine Website, nur eine Kurzinformation auf Venezia Today. (Der ÖPNV wird unterbrochen von 9:30-13 Uhr.)


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Der sportliche Schlusspunkt ist dann am kommenden Wochenende, 23.10., der Venice Marathon. Webcam mit Blick auf die mobile Marathonbrücke zwischen Dogana und Giardini reali. Fahrplananpassung des ÖPNV zu Wasser und zu Land am 23.10.

Einen schönen Winter allerseits!



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11. Oktober 2016

Die venezianischen Lazzarette - Saisonende 2016

"Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!"
Eingang ins Innere des Lazzaretto Vecchio

Ich wiederhole mich, aus gutem Grund. 

Denn der geführte Besuch der beiden venezianischen Inseln Lazzaretto Vecchio in der südlichen Lagune und Lazzaretto Nuovo in der nördlichen Lagune muss einfach immer wieder angepriesen werden. Wer sich für die Geschichte Venedigs interessiert, findet hier, was noch von den beiden zentralen Orten venezianischer Epidemienvorsorge und -fürsorge zeugt. 


Die Führungen an Samstagen und Sonntagen im Lazzaretto Nuovo enden mit dem Wochenende 29./30. Oktober. 
Die Führungen im Lazzaretto Vecchio am Sonntag, 16.10. mit einem Sonderprogramm. Es gibt einen kulinarischen Stand mit Cichetti (venezianischen Häppchen), einen Stand des venezianischen Verlags/der Buchhandlung  Mare di Carta und eine Ausstellung (und hoffentlich auch Verkauf) von Werken des venezianischen Malers Luigi Divari (der derzeit auch im Meeresmuseum in Stralsund ausstellt). Um 13:00 Uhr präsentiert der venezianische Chor AMURIAMUM Werke von Monteverdi, Dowland, Brahms und Salvadori. Im Ambiente des alten Pestlazzaretts sicher ein beeindruckendes musikalisches Erlebnis.  


Erster Saal hinter der Eingangstür des Lazzaretto Vecchio,
mit einem schönen erhaltenen Ziegelboden
Die erste Pestwelle erreichte den Hafen von Venedig mit Schiffen unterwegs vom Kaspischen Meer im Jahr 1348. Anzahl und Tempo der Ansteckungen machten schnelle Maßnahmen erforderlich, denn weder der Übertragungsweg noch Heilmöglichkeiten waren bekannt. Wie von Boccaccio im Decamerone beschrieben, gab es nur die Flucht als Option - für Privilegierte. In Venedig waren bis Ende 1350 mehr als 50 der patrizischen, also herrschenden, Familien ausgelöscht. Zwischen 1348 und 1351 verlor der europäische Kontinent 30 % seiner Bevölkerung. 

Venedig, einerseits eine offene Stadt mit internationaler Einwohnerschaft und ständig wechselnden Besuchern und Durchreisenden, andererseits durch Handelskontakte und Diplomatie über das östliche Mittelmeer und die Alpen weit hinaus gut vernetzt, liess Daten über die Wanderung der Epidemie erheben. Und verstand, dass Personen- und Warenverkehr zwischen den Handelshäfen über Gesundheitskontrollen reguliert werden mussten. Das erste Gesetz zur Kontrolle und Meldepflicht der Kapitäne (bei schweren Strafen für unwahre Angaben) einlaufender Schiffe wurde 1423 erlassen. 


Separate Krankenbereiche für die privilegierten Familien
Schon zuvor wurde die Einrichtung eines Hospitals für die BürgerInnen Venedigs in Epidemifällen beschlossen und war seit Januar 1423 in Funktion. Ausgewählt wurde dafür die Insel Santa Maria di Nazareth, seit 1249 Sitz eines Eremitenklosters gleichen Namens. Aus drei Gründen: wegen der natürlich gegebenen Isolation in der Lagune; wegen der Nähe zum Lido, was die Versorgung einer großen Struktur aber auch den Krankentransport einfacher machte; und wegen der günstigen Kosten durch die Dienstleistung des Ordens (das sollte sich in späteren Jahrhunderten ändern, aber das ist eine andere Geschichte). Die Bezeichnung 'Nazaretum' bürgerte sich ein, dann, vermutlich in Anlehnung an den Namen der Nachbarinsel S. Lazzaro, 'Lazzaretto'. Durch weitere Einrichtungen von Hospitälern in den venezianischen Kolonien fand der Begriff 'Lazzaretto' rund ums östlichen Mittelmeer Verbreitung und später weltweit.

In dieses Hospital, später 'Lazzaretto Vecchio' genannt, wurden nur manifest Erkrankte gebracht. Es ging hier nicht um Krankenpflege, sondern um die Begrenzung der Seuchenausbreitung. Für die einzelnen Kranken nur ums Sterben, die wenigsten genasen. Der ehrenamtliche venezianische Führer zitierte bei meinem Besuch im Oktober 2015 die Inschrift auf dem Tor zur Hölle in Dantes 'Göttlicher Kommödie':

„Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,
Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze,
Durch mich geht man zu dem verlornen Volke.
Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer,
Geschaffen haben mich die Allmacht Gottes,
Die höchste Weisheit und die erste Liebe
Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen,
Nur ewiges, und ich muss ewig dauern.
Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“



Graffitto im Lazzaretto Vecchio
Hoffnung war hier wirklich nicht angebracht, bei mehreren 100 Todesopfern pro Tag, besonders während der 2. großen Pestwelle 1630. Das Lazzarett wurde hauptsächlich durch Spenden und Nachlässe finanziert. Notare wurden 1431 durch Beschluss des Großen Rates unter Strafandrohung aufgefordert, ErblasserInnen zur Begünstigung des Lazzaretts zu veranlassen. Heißt, es war laufend unterfinanziert. 

Für die wenigen Genesenden oder die, die als Infizierte eingeliefert wurden, aber nicht erkrankten, wurde 1456 eine zweite Isolationsinsel in Betrieb genommen: Lazzaretto Nuovo. Auch sie diente in erster Linie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, aber auch als Übergangsphase zwischen nicht eingetretenem Tod und 'zweiten Leben', und der Überprüfung von Verdachtsfällen. Der Aufenthalt von Schiffmannschaften und Aufbewahrung von Waren, die nachweislich über Häfen eingereist waren, in denen Epidemien - Pest, aber später auch Cholera, Typhus' herrschten, wurde dann schnell die Hauptaufgabe des Lazzaretto Nuovo: die Quarantäne. Papiere mussten lückenlos sein, wurden streng überprüft und Falschangaben oder Fälschungen standen unter Strafe. 

In beiden Lazzaretti herrschte der Horror der morgendlichen 'Visiten' und Entscheidungen: nachts Verstorbene zum Bestatten (zum Teil in Massengräbern), manifest Erkrankte vom Lazzaretto Nuovo ins Lazzaretto Vecchio, Genesene vom Lazzaretto Vecchio ins Lazzaretto Nuovo, nicht Erkrankte im Lazzaretto Nuovo aus der Quarantäne zurück in die Freiheit. 


Prior/essa- und Verwaltungsbereich
Archivmaterial belegt, dass auf beiden Inseln, besonders aber im Lazzaretto Vecchio PatientInnen misshandelt, missbraucht und ausgebeutet wurden. 
Es gibt Prozessakten (1458) der Priorin Zentilina, die verdorbenes Essen ausgeben und InsassInnen am Hunger, nicht an der Erkrankung, sterben liess. 
1468 wurde der Prior und Arzt Polo da Genova gekündigt und 1470 angeklagt, verurteilt und enthauptet wegen Misshandlung von Patienten, wegen des Verkaufs der Kleidung verstorbener Patienten in der Stadt (entgegen der Pflicht, sie zu verbrennen) und wegen Kostenabrechnungen für bereits verstorbene Patienten. 
1482 wurde der Prior Paolo Blanco der Verantwortung schuldig gesprochen, dass viele Insassen des Lazzaretto, Erwachsene und Kinder, elend starben, sie ihres persönlichen Besitzes beraubt wurden, der verkauft wurde und die Krankheit weiterverbreitete, dass ihr Unterhalt von täglich 12 soldi nach ihrem Tod unterschlagen und damit die öffentliche Kasse geschädigt wurde. Polo Blanco wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt und zuvor der venezianischen Strafprozedur der persönlichen Entwürdigung unterzogen: gebunden an einen Pfahl auf einem Lastkahn stehend, gekleidet in die Schandfarbe gelb, den ganzen Canal Grande hinauf gefahren zu werden, während seine Schandtaten mit lauter Stimme für alle alle hörbar vorgetragen wurden.

Die Lazzaretti sind ein überaus spannender und vielfältiger Bereich venezianischer Gesundheits- aber auch Kriegsgeschichte. Denn nach der 2. großen Pestwelle von 1630 ließ der dicht geschlossene Sicherheitskordon der Lazzarette in der Lagune und in allen anderen venezianischen Häfen kaum noch epidemische Krankheiten an Land Fuss fassen. Ein Erfolg venezianischer Gesundheitspolitik, der in Europa und weltweit übernommen wurde. 
Aber die Kämpfe um Macht und Territorien im östlichen Mittelmeer, vor allem der 25jährige Krieg um Candia/Kreta, sorgten für ständigen Nachschub an verletzten Seeleuten, Soldaten, Söldnern. Das ist dann eine weitere Geschichte der venezianischen öffentlichen Gesundheitspflege.


Zwischen den Lazarettgebäuden
Die venezianische Historikerin Nelli-Elena Vanzan Marchini forscht und schreibt u. a. zum Thema öffentliche Gesundheit in Venedig. Auf ihrer Seite finden sich interessante Artikel, ihre Bücher findet man in venezianischen Buchhandlungen (eher weniger im www).  


Anmeldungen für die letzten Führungen des Jahres inter info@archeove.com.
Anfahrtswege werden auf den beiden Webseiten (oben) erkärt (aber auch in meinen älteren Blogeinträgen).
Für die Überfahrt nach Lazzaretto Vecchio wartet man am Ufer Corinto genau gegenüber der Insel und wird in Gruppen übergesetzt.

Die Führungen sind kostenlos, aber es wird eine Spende erwartet. Aus meiner Sicht sollte sie großzügig sein, denn gefördert werden mit dem Geld Projekte jenseits des kommerziell orientierten Tourismus. Sie tragen zum Erhalt des historischen Venedigs bei, das uns allen am Herzen liegt. Ob der enorm engagierte, geradezu leidenschaftliche Einsatz des Archeoclub Venezia, im Lazzaretto Vecchio ein Museum der Stadt Venedig einzurichten, jemals erfolgreich sein wird, sei dahin gestellt. Aber es ist richtig, das Vorhaben zu unterstützen. 





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3. Oktober 2016

Warten, bis der Ökologiemann klingelt?


Morgen wird in Venedig ein neues Abfallsammelsystem eingeführt, zunächst nur im Sestiere Dorsoduro. Man setzt, legt, stellt nicht mehr den Müll vor die Haustür auf die Gasse oder den Hof. Vorbei ist es auch mit der typischen morgendlichen Dekoration der Häuserwände: es werden keine Plastikmülltüten mehr an Nägel gehängt. Vielmehr klingelt der spazzino, der Müllmann (auch die Müllfrau ruft "spazzino!" ins Haus, wenn die Tür geöffnet wird), und man steht bereit und händigt den Haushaltsabfall persönlich aus. Uns TouristInnen als Hotelgäste betrifft es kaum, aber als temporäre BewohnerInnen der vielen 'Ferienwohnungen' müssen wir unsere Vormittagsplanung danach ausrichten. Also ist die Sache wichtig. 

So gehts laut Information der Stadtverwaltung, online seit dem 20.7.:
Montag bis Samstag zwischen 7:30 und 11:00 Uhr Klingelt oder klopft der operatore ecologico, der Ökologiearbeiter, an die Tür und nimmt den Abfall gemäß dem Wochenplan der Mülltrennung entgegen. Wer NICHT den Vormittag zuhause verbringt (aus meiner Sicht die Mehrzahl der Kinder und erwachsenen BürgerInnen, aber auch der Venedig-TouristInnen), kann seine Mülltüte zwischen 6:30 und 8:30 Uhr an der Anlegestelle des VERITAS-Sammelbootes abgeben. In Dorsoduro liegen die Boote am Rio di San Vio, bei San Basilio, an der Fondamenta dell'Arzere, am Ponte San Trovaso, an der Fondamenta Alberti. 

Auf der aktuellen Website von VERITAS gibt es einige Änderungen: die Wartezeit auf den operatore ecologico hat sich auf 12:00 Uhr verlängert; als Anlegestellen der Müllsammelboote sind genannt Rio della Salute, Rio di San Vio, Rio di San Sebastiano, Rio di Santa Marta, Rio di San Barnaba, Rio di Ca' Foscari. Aha. 
Und der Hinweis auf zu erwartende Knöllchen ab 167 €. (Wenn man beim Absetzen von Müll in flagranti erwischt wird oder wie?)
Die Umstellung soll von Handzetteln zur Information begleitet werden - man kann nur hoffen, dass diese Handzettel für die vielen Hunderte Ferienwohnungen in Dorsoduro auch in einige Fremdsprachen übersetzt vorliegen. Sowohl Stadt als auch Dienstleister informieren auf ihren Onlineveröffentlichungen ihre ausländischen Gäste ausdrücklich NICHT. Ich beklage das normalerweise nicht, bitte italienisch in Italien, aber wäre es in diesem Fall nicht sinnvoll, die 'Ferienwohnungs'-Gäste sprachlich mit einzubeziehen?

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Über die Personal- und weiteren Kosten dieses vermutlich zeitaufwändigen Klingelsystems muss ich mir nicht den Kopf zerbrechen, das ist Sache der Profis. Aber die Nutzerfreundlichkeit scheint mir bedenkenswert, wenn ich die Wahl habe zwischen einer Mülltütenwanderung am frühen Morgen zum VERITAS-Boot und zuhause Geduld zu üben bis Schlag Mittag, wenn ich Wichtigeres oder Besseres vorhabe. Ehrlich gesagt: eigentlich fasse ich es nicht. Aber andererseits: wenn ich Venezianerin wäre, würde mich dieses System sofort und extrem disziplinieren, nur noch minimale Mengen Müll zu produzieren. Vielleicht ist Umwelterziehung der Menschen ja das geheime eigentliche Ziel dieser Umstellung! (Und nicht die der Ratten und Möwen, die sich ab morgen neue Futterquellen suchen müssen.)

Es gab einen Testlauf für die neue Einsammelmethode im September 2015 im Bereich zwischen Accademia und Dogana. Der erbrachte immerhin einen Anstieg der Mülltrennung von vorher schlappen 25,81 % auf 40 %. Anscheinend fördert die persönliche Übergabe an die Müllautorität die Bereitschaft, die Regeln der Mülltrennung zu befolgen. Die Testhaushalte sollen sich schnell an die neuen Regelungen gewöhnt haben, vor allem die Zufriedenheit über die öffentliche Sauberkeit habe dazu beigetragen. Die Verwaltung von Stadt und Dienstleistungsbetrieb versprechen sich künftig auch Erkenntnisse über Verteilung/Zusammensetzung der Müllkontigente; längerfristig wird wohl auch die Frage der Kosten der Müllentsorgung bei 56.000 EinwohnerInnen (Stand Juli) gegenüber 22.000.000 BesucherInnen jährlich auf den Tisch kommen.

Aufschlussreich an der Testphase finde ich vor allem die Zahlen der NutzerInnen: 536 Private, 404 nicht Private, 365 'non-residenti', also Nichtansässige, also vermutlich 'Ferienwohnungen'. Das entspricht meinen Beobachtungen im Laufe der Jahre, denn Statistiken dazu fehlen bisher soweit ich weiss. 
Die steigende Zahl dieser Wohnungen, die nicht dem einheimischen Wohnungsmarkt zur Verfügung stehen, ist mit einer der Gründe für die sinkende Einwohnerzahl des centro storico und einer der großen Konfliktherde dieser Stadt. Einerseits wird seitens der Bürger die gewollte 'Disneylandisierung' und Entvölkerung beklagt und die Politik und die Wirtschaft für die Entwicklung und ihre Folgen in Haft genommen. Andererseits wird von den BürgerInnen selbst die Kleinwohnung, geerbt von der Oma, dankend als dauerhafter stabiler Lebensunterhalt umgehend mit Höchstgewinn als 'Ferienwohnung' vermietet und keineswegs zu einem normalen Mietpreis auf dem lokalen Wohnungsmarkt angeboten. ('Ferienwohnungs'ungeeignete Räume übrigens auch nicht, sie können als Massenschlafplätze für nicht italienische Arbeitskräfte verwendet werden.) Auf dieser persönlichen Ebene ist der venezianische Exodus auch ein Konflikt zwischen besitzenden und nicht besitzenden BürgerInnen. Zwischen Gier und Gemeinsinn. Aber das ist eine andere Geschichte, die die VenezianerInnen unter sich ausmachen müssen, aus der ich mich als Besucherin heraus halten sollte. 

Das neue Abfallsystem wird in den kommenden 16 Monaten in ganz Venedig (centro storico und Inseln) installiert, ab Januar 2017 in Santa Croce und San Polo, ab Mai 2017 in San Marco, ab Oktober 2017 in Cannaregio, ab Februar 2018 in Castello. Nachzulesen in der Präsentation 'Keine Mülltüten mehr in den Gassen Venedigs' im Anhang der städtischen Informationsseite (wie im Link oben). Die Präsentation enthält eine ganze Reihe interessanter Statistiken bis hin zum Plan der öffentlichen Abfallkörbe im Stadtgebiet (für den alleräußersten Notfall?) und überzeugende Fotos zur Sauberkeitssteigerung. 

Offen bleiben Fragen, wie: wenn der Müllmann bis Mittag nicht kommt, zahlt VERITAS ein Knöllchen an die umsonst wartenden Bürger? Na gut, nicht witzig, aber: was passiert beim neuen Sammelsystem in Grenzfällen wie z. B. Streik? Sammelt sich der Müll dann in den Häusern, nicht mehr auf den Gassen? 

Gehen wir mal davon aus, dass die Sache nach einer Gewöhnungsphase wunderbar klappt und lernen wir die Wörter 
immondizie und 
spazzatura (beide gleichwertig für 'Hausabfälle') und 
rifuiti, (Oberbegriff für 'Müll'). 


La Nuova 30.9.: Da martedi cambia tutto. (Ab Dienstag ändert sich alles.) Buona fortuna!




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