Venedig bis hierher
Venedig 2019 |
Gestern Abend stand der Markusplatz von 22 Uhr bis Mitternacht 10 cm unter Wasser. Und die Basilika, natürlich, denn der längst beschlossene gläserne Schutz, der San Marco und seine Kostbarkeiten vor weiterem acqua alta schützen soll, wird weiterhin bürokratisch verhindert. Und das mitten im August. Historisch gab es das 5 mal, seit 1987, vorher nie.
Gestern Abend war der Markusplatz voller Menschen, die im Wasser platschten oder von den trockenen Stufen der Procuratie zuguckten und Selfies/Fotos machten. Mitten in der 4. Welle der Covid-Pandemie. Viele ohne Masken und möglicherweise ungeimpft, zu schließen aus den deutschsprachigen Teilnehmer*innen einer No-Vaxx-Kundgebung auf dem Campo S. Geremia am Nachmittag und an den langen Schlangen vor den Testzentren, wo sich Tourist*innen für die quarantänefreie Rückkehr kostenfreie Negativbescheinigungen besorgen. Mit Schnelltests über alle Grenzen.
Diese Stadt ist nicht zu retten. Nicht vor der menschengemachten Klimakastrophe, nicht vor der menschlichen Dummheit und Gier. Ein guter Anlass, den Punkt zu setzen, den ich seit langem hinauszögere.
Im Juni kündigte die italienische Regierung das Verbot der Passage großer Kreuzfahrtschiffe durch das Becken von S. Marco und den Canale della Giudecca an. Im Juli machte daraufhin die UNESCO ihre Ansage, Venedig auf die Liste des gefährdeten Welterbes zu setzen, wieder nicht wahr. Zum 3. Mal! Gegen alle Bitten von Natur- und Denkmalschützer*innen und der venezianischen Bevölkerung, die Hoffnung in diese Maßnahme gesetzt (und sie keineswegs befürchtet) hatten. Die Kreuzfahrtunternehmen (diejenigen, die jetzt nicht vorläufig Triest und Monfalcone anlaufen) fahren weiter durch die Lagune, dazu werden weitere Kanäle vertieft, der von der Kreuzfahrtindustrie gewünschte Hafen in Marghera wird gebaut mit 5 Anlegern. Der von der Regierung angekündigte Hafen vor der Lagune kommt eventuell, aber nur mit 2 Anlegern. (Der Kreuzfahrthafen wurde bisher von 6 Schiffen, oder sogar mehr, gleichzeitig genutzt.) Man kann sich vorstellen, wohin diese Planung langfristig führt.
Venedig 2019 |
3 Monate nach der Hochwassersturmkatastrophe vom November 2019 wurde Venedig im Frühling 2020 sozusagen geschlossen, abgetrennt von ihrer wirtschaftlichen Basis und in Zukunftsängste geworfen. Denen man begegnete mit der Wunschvorstellung bzw. Propaganda, die Gelegenheit zu nutzen und neue wirtschaftliche, soziale, ökologische Perspektiven zu entwickeln, im Rahmen einer nachhaltigen Planung, für die Zukunft der Stadt.
"Mehr zur Zukunft Venedigs - Gedanken, Vorschläge, Projekte, Kritik, Dys- und Utopien" eine natürlich unvollständige Mediensammlung eines Jahres.
Aber das war wohl nix.
Profiteur*in der "Lösung" der Grandi Navi wird die Kreuzfahrtindustrie sein und der Hafen Venedig. Den Preis zahlen (trotz des fragwürden M.O.S.E.) die kaputte Lagunennatur, die ungeschützt weiter absaufende und bröckelnde Basilika San Marco, und die Bürger*innen, die vielleicht noch 20 Jahre im historischen Zentrum wohnen werden, bis es im Sinne der Wirtschaft frei ist von Einwohner*innen.
Der private venezianische Immobilienmarkt ist weiter fett und einträglich, nichts hält die Venezianer*innen mehr auf, Schritt für Schrittchen ihre Stadt zu verscherbeln.
Weiter steigt die Zahl historischer Gebäude, die - aus städtischem oder Privatbesitz - Luxushotelketten oder internationalen Institutionen der Wirtschaft in den Rachen geworfen werden (um nur einige derzeitige zu nennen: Ca' di Dio an der Riva, Palazzo Giovanelli in Cannaregio, Palazzo Berlendis in Cannaregio, die ex-Gefängnisse von San Severo in Castello, das Ospedale al Mare auf dem Lido, ex-Glasbläsereien auf Murano, das ehemalige Kloster der Imeldinerinnen, der Palazzo Seriman, Kindertagesstätte und Schule der Dienerinnen der Kindheit Jesu (und weitere ex-Klöster) in Cannaregio, die ex-Kaserne Pepe und evtl. sogar die Gebäude des ex-Klosters San Nicolò auf dem Lido, die Inseln San Felice und Delle Grazie) - aber das sind nur die größeren und medienbekannten Projekte.
Mir persönlich gab der Hotel- bzw. Apartmentneubau auf der Fläche der Gasometer bei San Francesco della Vigna den Rest. In "meiner" Nachbarschaft! Die Zerstörung einer intakten Wohnviertelstruktur (wenn auch vielen Ferienwohnungen). Wirkungslos waren Klagen und die Gründung eines bürgerlichen Rettungskomitees. Den "Bonus" des Baus einer Turnhalle auf dem gekauften Gelände des anliegenden Gymnasiums zog der Bauherr aus Österreich kürzlich aus der Planung zurück.
Venedig 2019 |
Ich war covidbedingt im September 2019 zum letzten Mal in Venedig. Wie die Stadt sich jetzt wieder mit Tourist*innen füllt, schwindet meine Nostalgie. Ich bin nicht die Einzige.
Der Blogger Steven Varmi (venezia blog) verließ im Juli mit seiner Familie Venedig nach 10 Jahren und lebt jetzt wieder auf dem amerikanischen Kontinent. Ich kenne seinen Blog seit dem ersten Eintrag und konnte miterleben, wie sich seine Begeisterung und Bewunderung entwickelten in Anpassung an das venezianische Leben, vertieftes Kennenlernen von Mitbürger*innen und Lebensweisen, erstaunte und entzückte Beschreibung seiner Erfahrungen, differenzierte Wahrnehmungen und erste Irritationen, Frustration über venezianische "Systeme", Ärger über die Lokalpolitik und Wut auf ihre Mandatsträger, Beteiligung an Bürgerinitiativen und die Sinnfrage.
Ich fand, das ging schnell bei ihm - aber er lebte ja in Venedig, was für mich nicht in Frage kam. Bei mir entwickelte sich das alles deutlich kritischer, aber gleichzeitig langsamer und nachsichtiger, ich war 25 Jahre lang 2-4 mal jährlich 3 Tage-5 Wochen in Venedig. Da kann man sich etwas länger an einem dysfunktionalen Traum festhalten und mit Kunst, Bibliotheken, Architektur, Menschen, Natur ausbalancieren.
Aber nun ist es genug, in jeder Hinsicht. Diese Stadt ist wirklich nicht mehr zu retten. Ich jammere nicht, ich polemisiere nicht, ich halte mich jetzt raus aus Venedig und meine Klappe. Mit Genuss werde ich mich den Büchern widmen, die ich in über 20 Jahren, teils mit mühsamer online-Suche in internationalen Antiquariaten, gesammelt habe. Meine Venedig-Expertise wird nicht mehr reise- und kultureventorientiert sein, sondern quasi weitergebildet und 'privatgelehrt'. Ich werde den Input genießen und plane nicht, Output zu produzieren.
Nur noch entspannt die interessantesten Artikel venezianischer/ italienischer Tageszeitungen und Magazine lesen, Blogs und Tweets eventuell, und nicht mehr darüber nachdenken, wie ich die Informationen in meinem Blog umsetzen kann. Und ich werde mich nicht mehr über die venezianische Politik aufregen.
Ich habe ca. 20-30 detailliert vorbereitete Blogeinträge (vor allem unzählige Links zu lokalen Medien, deren Inhalte die Ergänzung oder sogar Basis meiner Texte gewesen wären). Ihre frustrierenden Inhalte (zum jammern und polemisieren) waren der Grund für meine immer seltener werdenden Einträge. Bleibt jetzt alles friedlich liegen, das erleichtert mich, aber traurig bin ich auch ein bisschen.
In meinem Twitteraccount https://twitter.com/ebbonn verlinke ich weiterhin (neben Privatem) interessante Berichte/Artikel/Informationen zu Venedig, die ich im www finde. Zu lesen auch mit Hilfe von Google translate.
Herzlichen Dank allen, die meinen Blog in 14,5 Jahren fanden und lasen und sich inspirieren liessen. Für mich waren die vielen Kontakte, die sich durch den Blog aus meiner eigenen Aktivität oder zu meiner Überraschung ergaben, eine unschätzbare Bereicherung in dieser langen Zeit. Tausend Dank jeder einzelnen Person, der zu begegnen ich die Freude hatte.
Vor allem danke ich den Korrespondent*innen, die mich mit Kommentaren, Kritik, Vorschlägen, Ergänzungen, Filmen, Buchhinweisen, Anerkennung, Dank und ihrer Freundlichkeit und Zugewandtheit begleitet haben. Für mich unverdient und unersetzlich.
Denkt bitte alle über Euer Reiseverhalten nach, wenn Covid irgendwann unter Kontrolle sein sollte. Das Richtige zu tun bedeutet nicht, das für die Tourismusindustrie Richtige zu tun. In Venedig Ferienwohnungen zu mieten bedeutet nicht unbedingt Lebensunterhalt der Vermieter*innen, sondern vor allem Zerstörung des privaten venezianischen Wohnungsmarkts. Rein- und Raustourismus bedeutet nicht Kulturreiseerlebnis, sondern Mißachtung des Welterbes Venedig uns seiner Einwohner*innen.
Ich verabschiede mich mit herzlichsten Grüßen - Brigitte Eckert
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