Torcello
Laguna Nord mit der Palude della Rosa im Vordergrund, Torcello, Burano und Mazzorbo in der Mitte und dem Lido von Punta Sabbioni im Hintergrund
Was auf Torcello zu "besichtigen" ist, kann man in jedem Reiselführer nachlesen und es fallen Prädikate wie 'einsam', 'melancholisch', 'still' und 'vergangene Größe'. Die vergangene Größe ist belegt, aber auf dem heutigen Torcello reicht meine Phantasie nicht, mir einen Handelshafen und eine reiche Stadt von 20.000 Einwohnern vorzustellen, Werkstätten, Paläste, Kirchen, Klöster, und die Stadt Venedig existiert noch gar nicht.
14 Einwohner leben jetzt noch fest auf Torcello, die Gärten tragen überreich Wein, Granatäpfel, Kirschen, Giuggiole, Mispeln, Quitten und die berühmten Artischocken neben allem anderen Gemüsebedarf. Man ruht sich von der Gartenarbeit aus auf einem alten Stück Säule oder Treppe, die der Boden als Reste der alten Pracht freigegeben hat und die nicht vor Jahrhunderten weggeschleppt wurden, um beim Aufbau von Venedig recycelt zu werden.
Wer in der touristischen Infrastruktur Torcellos arbeitet, kommt morgens mit dem Boot und fährt abends zurück. In den warmen
Palude della Rosa, Barene, Alpen Foto Paolo Andrich
Monaten begehen darüber hinaus bis zu 5000 Menschen pro Tag die kleine Insel auf einem Fußpfad der nur ca. 1 km lang ist. Paolo Andrich hat das Projekt eines Fußpfades rund um die Insel entwickelt, der sowohl den Blick auf den die Insel umgebenden Sumpf (Palude) und Salzwiesen (Barene) freigibt als auch auf die Gärten der Bewohner. Der Pfad wäre seitens der Administration genehmigungsfähig, ist es aber noch nicht seitens der Bewohner, von denen einige die vielen und möglicherweise indiskreten Wanderer auf dem Weg über ihre Privatgrundstücke fürchten.
So führt der Weg bis auf Weiteres von der Bootsstation vorbei an den Fixpunkten Ponte di Diavolo, Locanda Cipriani (in dem die VIPs der Welt sich die Bestecke in die Hand geben sollen, man aber eher zu große Motorboote sieht, die zu schnell in den schmalen Kanal vor dem Restaurant düsen), Verkaufsstände mit Stickereien und Häkeleien bis zum kleinen Platz, der vom alten Torcello erhalten ist.
In der byzantinischen Kirche Santa Fosca kann man mit ein bißchen Glück am Samstagnachmittag einen katholischen Gottesdienst erleben. Ich hatte eigentlich keine Lust, ein Stündchen meines Urlaub dafür aufzuwenden, konnte aber angesichts des einmarschierenden sehr alten, sehr dicken Priesters und seines sportlichen mittelalten Ministranten im Lagunen-Jägeroutfit (Gummistiefel mit eingesteckten Hosenbeinen und Patronenweste, gibt es nicht solche Fotos von Hemingway, der auf der Insel gearbeitet und in der Lagune gejagt hat?) höflichkeitshalber nicht mehr aussteigen. Es wurde eine sehr schöne intime Messe unter uns dreien, der Alte las aus seinem riesigen Messbuch mit einer großen Leselupe entspannt und pathosfrei, der Messdiener wickelte seine Aufgaben präzise ab und ich war wirklich bewegt, in dieser bescheidenen, tausend Jahre alten Kirche das Ritual mitzuvollziehen.
Die Kirche der Assunta wird jeder für sich als außerordentlichen Eindruck erleben, aber bei aller tief beeindruckenden Mosaikpracht sollte nicht die schöne Darstellung des griechischen "καιρος" übersehen werden, ein Relief am hinteren Fuss der Kanzel. Die "Chance", die wie auf Rädern vorbei eilt, der der alte Mann nachweint, die auch den mittelalten Menschen hinter sich lässt und die der Junge am Haarschopf packt.
Der Besuch des Campanile ist in der Eintrittskarte enthalten und sollte nicht versäumt werden, auch nicht aus Bequemlichkeitsgründen! Die Aussicht über die Laguna Nord, Torcello und im Süden Burano und
Blick vom Campanile nach Südwesten, mit der Casa d'Artista zwischen den Bäumen
Foto Paolo Andrich
Mazzorbo, im Westen bis zum Flughafen Marco Polo ist zu jeder Jahreszeit ein Erlebnis. Der Aufgang besteht nicht aus Treppen, sondern aus einer Abfolge von Rampen, verbunden durch jeweils zwei Stufen, sogar RollstuhlfahrerInnen können mit ein bißchen Schiebehilfe auf den Turm (ganz am Schluss kommen fünf hohe Stufen, aber da sich immer Leute auf dem Turm aufhalten, findet man leicht zusätzliche Hilfe).
Wer die vielbeschriebene Stille, Einsamkeit und Melancholie Torcellos spüren will, muss über die "Öffnungszeiten" hinaus bleiben. Es gibt eine Hand voll Zimmer auf der Insel, familiär entspannt und bäuerlich einfach kann man bei Paolo Andrich in seinem Bed&Breakfast "Casa d'Artista" unterkommen, wo man außer der freundlichen Atmosphäre und dem gemeinsamen Frühstück im Sommer Kursangebote (Kunst, Ökologie der Lagune) und Weitervermittlung an Spezialanbieter zu Ökologie, Geschichte, Archäologie (je nach rechtzeitiger Anfrage) wahrnehmen kann. Paolo plant neben seinen Artischocken- und Weinfeldern auf seinem Grundstück ein Umweltbildungszentrum zum Ökotopos Laguna Nord in Kooperation mit dem neuen Naturpark Laguna Nord. Nach einem Gespräch mit ihm (italienisch, französisch) ist man bestens orientiert über ökologische Probleme und Standpunkte, z. B. auch das umstrittene Projekt MOSE.
Patio vor der Casa d'Artista
Foto Paolo Andrich
Die 'Casa d'Artista' ist der ehemalige Inselwohnsitz des Kunstprofessors Lucio Andrich, dessen hinterlassenes Werk (Malerei, Skulpturen und vor allem ungewöhnliche Kunstwerke aus Stoffen, zusammengesetzt aus unterschiedlichsten Applikationen) der Neffe Paolo pflegt und ausstellt.
Ein Sonnenaufgang vor der Hütte am Artischockenfeld an einem frischen Septembermorgen oder eine Gesprächsrunde mit interessanten Menschen vor dem offenen Kamin sind unvergessliche Ergänzungen eines Aufenthalts in Venedig.
Und an einem Samstagnachmittag traf ich dort ein Jahr später den alten dicken Priester wieder, der auf ein Schwätzchen nach dem Job zu Besuch kam...
Um nicht zu sehr ins Schwärmen zu kommen, sei ergänzt, dass ein gutes Mückenmittel in Ganzkörperanwendung ab 17 Uhr auf Torcello unverzichtbar ist!
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