27. Juli 2009

Scuola Grande della Misericordia

Großes Haus, kleines Bild - vorderes Viertel der Scuola Grande della Misericordia


Die herausragende Möglichkeit, ein normalerweise unzugängliches Gebäude zu betreten bietet die 53. Biennale mit der Scuola Grande della Misericordia in Cannaregio, 5 Minuten zu Fuss von der Haltestelle Ca' D'Oro. Die Gelegenheit, ob einmalig oder nicht, sollte man sich keinesfalls entgehen lassen! Es ist zwar schon länger die Rede davon, dass die nie vollendete Scuola als Konzertraum genutzt werden soll, aber davon kann nach meiner Einschätzung vorläufig keine Rede sein.


Ein großes Gebäude von außen zu sehen ist eines, von innen aber als ein EINZIGER Raum widerspricht völlig den visuellen Erfahrungen. Auch die Abstützung des Obergeschosses (ebenfalls ein einziger Raum!) durch zwei Reihen Säulen, die optisch einen gewissen Vorschlag von Dreischiffigkeit macht, stört den umwerfenden Gesamteindruck von Riesigkeit nicht.
Auch die Höhe beider Etagen ist einfach enorm, was die Kraxelei auf der primitiven Betontreppe bestätigt.


Decke und Stützbalken im Parterre-Raum

Übrig gebliebenes K u. K. -Graffito

Nebenbei: verglichen mit den beeindruckenden Treppenhäusern der anderen scuole grande = Caritá (Accademia), San Rocco, San Giovanni Evangelista, auch San Marco (Krankenhaus), San Teodoro und Carmini scheint es kein Originaltreppenhaus in diesem unvollendeten Gebäude gegeben zu haben. Das wäre doch eine schöne Herausforderung für einen Sponsor, ein angemessen prächtiges zeitgenössisches Treppenhaus ausschreiben und bauen zu lassen!

Rohbautreppenhaus, der Charme des Unfertigen

Das Obergeschoss ist innen komplett eingerüstet, ich weiss nicht, ob zwecks Stütze oder Renovierung.
Es gibt eine Art Gewölbekeller ausserhalb des Gebäudekörpers (Toilette, Papierlager) und zum Rio della Sensa hin eine moderne Terasse, die mir bisher vom anderen Ufer her noch nie aufgefallen ist, und von der man (rechts raus, vor der Treppe ins Obergeschoss) einen schönen Blick auf die scuola vecchia und die geschlossene Kirche und Sta. Maria della Misericordia hat.

Die scuola ist einerseits der litauische Pavillon mit "The Tube" einer Installation von Magnetbändern von Zilvinas Kempinas, eine wunderschöne begehbare Spielerei und perfektes Fotomotiv; beherbergt ausserdem die Blechinstallation "L'acqua" von D TAO , beide füllen den Erdgeschoßraum völlig aus. (Abgesehen von ein paar verbliebenen Graffitti österreichischer Soldaten an den Wänden, aus einer ganz anderen Zeit...)

Auf diesem Video geht es ausschließlich um die litauische Ausstellung; aber man gewinnt gut einen Eindruck vom Inneren der scuola und der Raumgestaltung im Parterre. (Nebenbei auch noch die überflüssigen Eitelkeiten der Medienvertreter und VernissagebesucherInnen...)





DasObergeschoss ist komplett belegt mit der Ausstellung "Öst-Westlicher Diwan" von KünstlerInnen aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak, die mir mit fast allen Exponaten und der gesamten Atmosphäre der Präsentation sehr und nachhaltig gefiel und ich kontemplativ entspannt wieder in die Sonne am Canale della Misericordia trat.







http://princescharities.org/events-campaigns/2009/4/20/east-%E2%80%93-west-divan-contemporary-art-afghanistan-iran-pakistan







Keinesfalls verpassen. Station Ca' D'Oro, auf der Strada Nova links, über die Brücke am Rio S. Felice, dann rechts die Fondamenta della Chiesa bis zum Ende, links über die Brücke und man steht unübersehbar davor. Liegt zwar "am Rand", aber trotzdem keine Entfernung!





19. Juli 2009

Mexico - Eine irritierende Präsentation



"Aspekte" berichtete zur Eröffnung der 53. Biennale ausführlich über den mexikanischen Beitrag von Theresa Margolles (das Video steht leider nicht mehr auf der Aspekte-Website zur Verfügung).

Ich kannte Margolles bisher nicht, aber im Internet gibt es Einiges, z. B. http://www.mmk-frankfurt.de/mmk_d/03_margolles01.html.
Ihre Arbeit setzt sich seit Jahren ausschließlich mit der Gewalt, sprich dem gewaltsamen Tod in Mexico in den letzten beiden Jahrzehnten auseinander. Laut Ausstellungsflyer starben 2008 5.000 Menschen in Auseinandersetzungen z
wischen Executive und kriminellen Banden, doppelt so viele wie 2007.

Margolles interessiert nicht wer wen tötet, Opfer oder Täter, politische Entwicklung und Ursachen, etc., sondern "la vida del cadáver". Ihre Kunst besteht im spektakulären Recyceln von Menschenüberresten.

Bei allem Respekt vor ihrer kreativen Arbeit und Empathie für ihr Anliegen scheint mir das in Zeiten, in denen der bewußte Umgang mit Körperflüssigkeiten schon zur Gesundheitserziehung von Vorschulkindern gehört, eher vom Thema abzulenken.
Wer ist schon frei von Ekel allein bei der Vorstellung eines mit Leichenwaschwasser gewischten Fussbodens, umgehend verbunden mit der Scham über derartig simple Gefühle, gefolgt von der Reflexion darüber?
Ich bin z. B. auch nicht frei von der Überlegung, was die Verdampfungsaktion zur Gewinnung von eben Putzwasser aus Leichentüchern von Ermordeten im Parterre eines alten venezianischen Gebäudes und die daraus aufsteigende Feuchtigkeit für dieses Haus bedeuten. Inklusive der Peinlichkeit meiner banalen Reaktion angesichts des bitteren Themas und seiner pathetischen Vermittlung!

Beim Besuch stellt sich heraus, dass es bei der Präsentation hauptsächlich ums Konzept geht, die Aktion scheint sich eher auf Medienvorführungen Anfang Juni beschränkt zu haben.

In den leeren Räumen im piano nobile des Palazzo Rota Ivancich steht jeweils ein roter Putzeimer + Feudel und ein Schild, dass "mindestens 1 mal täglich" gewischt wird (wieder eine banale Verknüpfung: Hinweisschild in öffentlichen Toiletten...?), woraus ich schließe, dass die Verdampfung im Parterre maximal 1 mal täglich angeworfen wird.
Die "Verwandten" der Toten, die zum Fussbodenwischen nach Europa gebracht wurden, sind nicht anwesend und ich muss meine Überlegung, wie sie sich dabei fühlen (Opfer des Drogenkriegs? der Verhältnisse? des Kunstmarketings?), auch im Hinblick auf die unzähligen lateinamerikanischen Frauen, die europäische Fussböden wischen (schon wieder eine banale Assoziation...), mit mir selber abmachen.





Ich finde die Präsentation Margolles' (die Performance? das Happening?) und ihre einerseits intime, andererseits distanzierte (sie veranlasst, legt nicht selber Hand an) Arbeit an ihrem Them
a irritierend. Und meine Reaktion darauf auch. Aber Irritation ist vielleicht schon eine aktzeptable Wirkung?

Kleiner Eingangsbereich im piano nobile des Palazzo Rota Ivancich

Der Palazzo selbst, über den ich weiter nichts in Erfahrung bringen konnte, wirkt düster durch abgedunkelte Fenster und funzelige Beleuchtung, leer, mit z. T. in Fetzen hängenden Tapeten und scheint länger nicht bewohnt zu sein. Boden und Wände des Eingangsbereich des piano nobile sind im Gegensatz dazu gut erhalten verspielt dekoriert.
Der Palazzo ist relativ schwer zu finden, die Calle del Rimedio oder Remedio ist die erste rechts, linker Hand der Kanal, wenn man von Sta. Maria Formosa in Richtung S. Giovanni Novo (in Olio) geht.





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11. Juli 2009

53. Biennale - eine Frage der Wahrnehmung

Fassade des Palazzo delle Esposizioni, gestaltet von John Baldassari (Ehrenlöwe Lebenswerk)

Drei Tage vor Eröffnung werden die Medienvertreter übers Biennalegelände geschickt, nicht ohne Stimmungsaufheller wie Häppchen und Alkohol.

Das Ergebnis: alle berichten nur übe
r eine Handvoll Pavillons in den Giardini (und die entsprechenden Warteschlangen davor), in diesem Jahr:
Skandinavien (geteilte Bewertung, aber immer mit Foto der Wasserleiche im Pool); Tschechien Foto unten (toll: man erkt kaum, dass man die Ausstellung betritt bzw. schon durchquert hat); Deutschland (langweilig und die Katze ist doof); Großbritannien (ein 30-Minuten Film, harmlos und öde); USA (nicht besonders einfallsreich, aber eine sichere Nummer); Korea (erfrischend, heiter, elegant).

Die Strecke zwischen diesen si
eben Pavillons (Skandinavien hat zwei) ist in weniger als fünf Minuten bewältigt.

Durch den Medienrost fallen leider Ausstellungen wie z. B. Brasilien, Russland, Finnland, Polen, Spanien....

Alle berichten auch über den zentralen Palazzo delle Esposizioni, noch ein paar Meter
weiter. Schwerpunkte sind hier die Rehberger-Cafeteria (die mich an OP-Art und Kinderladeninterieurs der Sechziger erinnert, aber vielleicht sind die Medienvertreter zu jung?), immerhin mit einem Goldenen Löwen gepusht; die hochkomplizierten Spinnenkugeln Thomas Saracenos (ungeteilte Faszination); Natalie Djurbergs Knetepflanzen und Videos (Fazination schon, aber nicht ungeteilt); und Yoko Ono, die einen der beiden Ehrenlöwen erhielt.
Und damit bleibt fast die ganze Ausstellung dieses Palazzo medial unterbelichtet.

Ausstellung Thomas Saraceno rechts
Der Besuch im Aus-
stellungs-
gelände des Arsenale ist fußmäßig schon
anspruchs-
voller und es gäbe auch hier vie
l zu erzählen. Es bleibt aber weitgehend bei der Erwähnung des (neu hinzugekommenen) Vergini-Gartens (Kunst in der Natur - Natur als Kunst); den wunderbar zauberischen Goldfäden von Lygia Pape direkt im Eingang; der dunklen Installation von Chu Yun, die man aber erst wirklich wahrnehmen kann, wenn man ins Schwarze geht und abwartet, bis man im Dunklen sieht (hat vermutlich kein Medienvertreter ausprobiert); des Pavillons von Italien (erwähnenswert, dass der Inhalt nicht erwähnenswert, da berlusconiangepasst sei).

Glücklicher Zufall: Daniel Birnbaum, Biennaledirektor, führt (auch mich) durch das Arsenale

Nicht erwähnt werden z. B. die Chinesen, die Afrikaner, die Lateinamerikaner und die gesamten riesiegen Ausstellungen (z. B. Die Angstgesellschaft, oder Jan Fabre, der mich schon 2007 im Palazzo Benzon irritierte) im Arsenale Novissimo auf der anderen Seite des Arsenale-Beckens. Die erreicht man mit einem Shuttleboot oder über den Nordeingang mit der Linie 41/42/51/52, Haltestelle Bacini.

Skulpturen von Miranda July im Vergini-Garten

Das ist alles viel Latscherei und kostet vor allem Zeit. Ebenso wie die vielen Ausstellungen im Stadtgebiet, z. T. Länderpavillons, z. T. sog. Collateral Events, die insgesamt, wie in jedem Jahr, bem kurzen Medienschlaglicht auf die Biennale im Dunkeln bleiben. Ich vermute, es liegt daran, dass die Damen und Herren Medienvertreter sich erstens nicht die Mühe machen wollen, nicht zentral präsentierte Angebote zu prüfen. Und zweitens, dass mit aktueller Kunst in originalen Locations (eines der "Alleinstellungsmerkmale" der venezianischen Biennale!) eine weiterer Berichtsschauplatz aufgemacht wird, der auch veneziansche Geschichts- und Architekturkenntnisse erfordert. Was nun mal nicht jeder spannend finden kann.

Eine der Installationen von Jan Fabre wird von einem Helfer gesäubert (Taubendreck, Styroporunterlagen, Zahnbürste)

Besonders schade finde ich das in diesem Jahr z. B. für die Ausstellungen im Androne des Palazzo Donà dalle Rose (Venice in Venice), im Palazzo Michiel (Island und Singapur); die ehemalige Scuola Grande della Misericordia mit der Ausstellung West-Östlicher Divan (Iran, Afghanistan, Pakistan); und in diversen Kirchen, die normalerweise nicht zugänglich sind.


Scuola Grande della Misericordia, gesehen durch eine Magnetbänder-Installation


Ich habe aber längst noch nicht alle Ausstellungen abgegrast und hoffe, das im Laufe der nächsten Monate zu tun. Und werde hier nach und nach auf Ausstellungen hinweisen, die aus meiner Sicht den Besuch, die Latscherei, den Zeitaufwand wert sind (und in Einzelfällen vielleicht auch nicht).


Aleksandra Mir hat unter dem Titel "All places contain all others" Fotopostkarten gestaltet, die unter der Überschrift "Venezia" farbenfroh alles Mögliche zeigen, war NICHT Venedig darstellt (Karten kostenlos, Briefmarken im Shop erhältlich). Eine Aufforderung, Sehgewohnheiten, Verknüpfungen, Tiefe und Oberflächlichkeit von Eindrücken, und Selbsttäuschunen zu prüfen.

In meinem Büro mit permanentem Rein-Raus von KollegInnen und Gästen hängt seit 3 Wochen diese Postkarte und geht bisher
anstandslos durch.

Aleksandra Mir Venezia

Einfach eine Frage der Wahrnehmung!

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