19. Juli 2010

Eine Bibliothek in Venedig

Screenshots des ehemaligen Dormitoriums aus dem Fim 'In memoria di me'

Das Erlebnis der neuen Bibliothek der Giorgio Cini Stiftung auf San Giorgio Maggiore ist überwältigend. Ich habe das Privileg, den Vorher-Nachher-Effekt zu sehen.
(Links zu vorherigen Einträgen ganz unten.)
Schon der ursprüngliche Zustand des riesigen leeren Raumes im Dormitoriumsgebäude des ehemaligen Benediktinerklosters war atemberaubend. Ein sehr langer weißer Flur, nach Norden und Süden jeweils abgeriegelt durch eine große Trifore (dreibogiges Fenster) und in der Mitte durch einen schmalen Flur gekreuzt. Rechts und links eine endlos scheinende Folge von sehr kleinen, steingerahmten Holztüren, die zu den (unmöblierten) Einzelzellen der Mönche gehörten, mit einer Nummer über dem Türsturz.

Diese
großartige Leere ist nun natürlich verloren. Man kann sie am besten nachvollziehen im Film 'In memoria di me' von Saverio Costanzo, der 2006 auf S. Giorgio als ausschließlichem Drehort verwirklicht wurde und der die Innen- und Aussenräume des Klosters einzigartig feiert. Vom quarkigen religiösen pseudo-philosophischen Inhalt des Films, der wesentliche (kritische) Aspekte der Novelle "Der vollkommene Jesuit" von Furio Monicelli weg lässt, nehme ich entschieden Abstand.
Wenn nicht die
schöne Filmmusik wäre (Tschaikowski, Mahler, Walzer-Strauss, ein bisschen Missa Luba...) und der frische ungefilterte (!) Originalton des Bacino mit Fähren, Vaporetti, Polizeibooten und Ambulanzen, sogar Flugzeugen, wäre der Film besser tonlos zu sehen. Ich empfehle, ihn als preiswertes Souvenir in einem beliebigen DVD-Laden zu kaufen und als Dokument zu genießen!

Zurück zur Neugestaltung des Dormitoriums. Der monumentale Raum, gebaut mit dem alten "Zypressenkreuzgang" von Giovanni Buora Mitte des 15. Jahrhunderts, wurde von Michele De Lucchi völlig neu gestaltet.

Es wurde nichts weg genommen, angefangen bei den
Deckenlampen bis hin zu den alten Zellentüren, die, wo nicht mehr zu erhalten, aus dem gleichen Holz nachgebaut ersetzt wurden. Sogar die Zellennummern sind erhalten. Lediglich die schönen glänzenden Steinplatten des Fussbodens wurden mit Parkett bedeckt, was schade, aber pflege- und geräuschhalber möglicherweise sinnvoll ist.

Von den Regalen über Parkett, Beleuchtung, Arbeitsmöbel, hat De Lucchi die komplette
Ausstattung geplant, bis hin zum einzelnen (sehr bequemen!) Holzstuhl, im ehemaligen Flur wie in den Zellen rechts und links davon.
Die vielen kleinen Zellentüren sind sorgfältig umrahmt und in die Regale integriert. Die Zellen wurden teils in ursprünglicher (Einzel-) Größe belassen, teils wurden Wände entfernt und so räumliche Arbeitsstrukturen geschaffen für technische Geräte (Recher, Internet, Kopierer etc.), Arbeitsgruppen und Büros unterschiedlicher Größen, und einzelne inhaltliche Bibliotheksbereiche, wie z. B. auch die enorme Sammlung von Microfilmen. Nach Bedarf ist es auch möglich, die Räume untereinander zu verbinden und zu trennen und für spezielle Nutzungen einzurichten, wie z. B. Ausstellungen.

Es gibt rechts des Eingangs einen Empfang mit sehr freundlichen hilfsbereiten BibliothekarInnen, und links = Süden, ganz am Ende wo der Blick auf die Marina fällt, eine herrliche große Ledercouchanlage. Es riecht gut nach Holz! Die Leitern in den oberen Regalbereich sind bequem und stabil.
Im Kreuzungsbereich (zur alten Bibliothekvon Baldassare Longhena aus dem 17. Jahrhundert) gibt es eine kleine, vermutlich wechselnde,
Ausstellung von abstrakter Gegenwartskunst (Name des/der KünsterlerIn nicht gemerkt, sorry).

Der zentrale Raum der Nuova Manica Lunga enthält von den insgesamt 300.000 Bänden der Bibliotheken der Fondazione Cini die 150.00 Bände und 800 Zeitschriften aus dem Bereich der Kunstgeschichte. In den offenen Regalen finden sich die am häufigsten angefragten Werke: Kunstbände generell, Künstlermonographien, Museumskataloge, Bücher der Bereiche Ikonen, Zeichnungen, Stiche, Dokumente, Sammlungen, Auktions- und Gallerienkataloge, ausserdem Veröffentlichungen der Cini Stiftung selbst.

Nach der ersten Schockstarre angesichts dieser Schätze muss man entscheiden, ob man seinen Venedigbesuch wie geplant durchführt oder nicht viell
eicht doch abspringt in einen Urlaub in der Bibliothek! Die weiteren Bibliotheksbereiche sind Geschichte Venedigs, Venedig und der Osten, Musik- und Theaterliteratur und eine Phototek, die aber nicht in der Nuova Manica Lunga zur Verfügung stehen und auch nicht unbedingt allgemein, sondern auf Anfrage zugänglich sind.

Der Besuch sollte zur Agenda einer Venedigreise gehören. Nicht nur für BibliothekarInnen und KunsthistorikerInnen, sondern auch für alle, die gerne ein gelungenes Beispiel funktioneller Integration sehen und die großartige Konversion des Benediktiner-Dormitoriums bewundern wollen.

Nuova Manica Lunga
Bibliothek Kunstgeschichte
Bibliothek Venezianische Geschichte
Bibliothek Musik- und Theaterliteratur
Bibliothek Venedig und der Osten
Photothek

Die Bibliotheken sind geschlossen vom 9.-22. August und danach wieder öffentlich zugänglich gegen Hinterlassen des Personalausweises am Empfang der Giorgio-Cini-Stiftung
(schmiede
eisernes Tor rechts der Kirche S. Giorgio Maggiore, Eingang zum Palladio-Kreuzgang). Die Bibliothek ist werktags geöffnet. Beim Besuch am Wochenende mit der angebotenen Führung geht man auch durch die Nuova Manica Lunga, darf aber natürlich nicht an die Bücher ran!


Serviceinformationen
18.11.2007 San Giorgio Maggiore

18.03.2010 Führungen - San Giorgio Maggiore

Nördliche Trifore an der Marina-Seite von aussen

2 Kommentare:

eichinger georg hat gesagt…

informazione molto interessante e - come sempre - bene ricercata. mi fa voglia di andarci....

giorgio

Anonym hat gesagt…

Wir waren im Juni im Rahmen einer Führung durch die Fondazione Cini auch in der Bibliothek und ebenfalls sehr begeistert von dem, was wir sahen.
Mein Mann als Hobby-Kunsthistoriker möchte auf jeden Fall beim nächsten Besuch sich einmal in die tolle Welt der dort vorhandenen Kunstbücher versenken.

Viele Grüße

Angela