"Themenpark" Venedig
Wir wissen, was ein Themenpark ist.
In einer Ansammlung äußerlich themenspezifischer Architektur sollen wir künstlich hergestellte Abenteuer nacherleben und genormte Erfahrungen machen, Erlebnisse konsumieren, Adrenalin ausschütten. Außerdem hochpreisige Nahrungsmittel und Konsumartikel von eher schlechter Qualität erwerben, möglichst viel davon.
Der Gewinn wird von Besucher*innen individuell unterschiedlich empfunden, für die Betreiber ist er in der Bilanz hoch.
Sprechen wir von Venedig? Eigentlich nicht, hätte ich bisher gedacht. Obwohl zu den Hauptgefährdungen des Centro Storico durch den Massentourismus
- 1. der Gefährdung der Bausubstanz durch 'moto ondoso', also Wellenschlag durch Riesenschiffe und massiv erhöhtes Verkehrsaufkommen insgesamt, und
- 2. der Gefahr der Entvölkerung der Stadt durch Konvertierung des Wohnraums in Hotels und Ferienwohnungen - auch als
- 3. die kulturelle Bedrohung durch "Disneyfizierung" seit Jahren befürchtet und beklagt wird, habe ich die Disneyfizierung eher als Problem gesehen, dem man zu einem gewissen Grad ausweichen kann.
Aber in diesem Frühjahr habe ich der Disneyfizierung ins Auge geblickt, wo ich sie am wenigsten erwartet hätte: im Museo Diocesano d'Arte, das dem Patriarchat Venedig untergeordnet ist. Also eigentlich eine ziemlich seriöse Institution, die im Gebäudekomplex von S. Appollonia ihre Sammlung venezianischer Sakralkunst, vor allem aus aufgehobenen Kirchen und Klöstern, zeigt. Und immer wieder zusätzlich kleine Kunstausstellungen (wie z. B. im letzten Herbst einen frisch restaurierten Bellini) oder Nebenausstellungen der Biennale. Mit der Biennale ("Viva Arte Viva") eröffnete hier "VivaVivaldi", ein Produkt der Firma Emotional Experiences, und ich latschte in den ersten Tagen ahnungslos und mit Gottvertrauen in diese - nein, Ausstellung ist es nicht, Veranstaltung auch nicht - sagen wir mal: in dieses Event.
Der 45-Minuten-Durchlauf beginnt moderat mit einem Audiomaschinchen + Kopfhörern und der Anweisung, sich beim Zuhören mal den Kreuzgang (einzigartiger romanischer Kreuzgang von S. Appollonia) anzusehen und dann, weiter zuhörend, langsam über die (moderne) Treppe in die erste Etage zu begeben. Ton: Kurzreferat der Lebensgeschichte Antonio Vivaldi.
Danach wird es "PHANTASMAGORISCH".
Auszüge von Vivaldiwerken, von Cristian Carrara mit modernen Klangarrangements gesampelt, werden in 3 aufeinander folgenden Räumen begleitet zunächst von einfachen Videoprojektionen (der Videokünstler Jean-Francois Touillaud und Gilles Ledos unter Regie von Marco Pozzi), dann von einem Film, in dem eine schöne Frau und ein kleiner rothaariger Junge (il prete rosso!) nachthemdig und barfuß durch Flure und Hallen irren und ein jugendlicher Vivaldi wunderkindmäßig Violine spielt, und dann!! werden informationstechnische Register gezogen: im Hauptraum von S. Appollonia (ehemaliger Kapitelsaal des Primicierio von S. Marco?) wachsen digitale Wälder, Vögel zwischern, Musik jubelt, es bauen sich Wände, Säulen, Gewölbe auf, die Musik braust, Windböen fahren ins Publikum, die Wände fliegen weg, die Gewölbe explodieren, immer wieder, alles ist atemberaubend - und wie in einer Erleuchtung versteht man, was mit "Disneyfizierung" gemeint ist. Es geht nicht um Vivaldi, er ist nur der Aufreißer, sondern um ein schlaues Verfahren (populäre Musik + Video-mapping), das mit einem/einer guten Coder*in preiswert produziert und ohne weitere Sachkenntnis per Knopfdruck jederzeit und fast überall präsentiert werden kann.
Und bei der Disneyfizierung Venedigs geht es nicht um Venedig, sondern, wie ich seit Jahren in diesem Blog ahne, um das schnelle profitwirksame Pumpen von Menschenmassen durch Stadt, die nur als Aufreißer dient, aus Sicht derer, die davon profitieren. Die Menschen bewegen sich für ein paar Stunden in der Postkarte, im Video Venedig und bekommen ihre Show. Wer vom disneyfizierten Venedig nicht profitiert, hat das Nachsehen und muss eine Nische im System finden, auch die Einheimischen, die sich nicht vertreiben lassen wollen (und die Begeisterten wie wir).Die visuelle Sensation von VivaVivaldi wirkt beim ersten Mal, klar, aber sie verdirbt den Musikgenuss gründlich und wem Vivaldi schon als Fahrstuhlmusik auf den Zeiger ging, braucht ihn nach dieser Erfahrung für Jahre nicht mehr.
Ich wankte aus dem EVENT wie ein Kleinkind aus der Geisterbahn. Außer mir war nur ein junges amerikanisches Paar anwesend und ich hätte gerne gefragt, wie sie es fanden - aber mich fragte die Museumsmitarbeiterin, mit der ich bei der Ausstellung des Bellini im November gesprochen hatte, wie ICH es fand. Meine Antwort war von größter Höflichkeit, unser kurzes Gespräch sehr freundlich.
Soll man den Verantwortlichen im Museum und im Patriarcato Ahnungslosigkeit unterstellen? Ich glaube nicht. Indifferenz in Fragen der Kunst? Geschäftstüchtigkeit? Mangelnden Blick für den drohenden Themenpark? Profitgier? Darüber muss noch nachgedacht werden.
(Die FAZ am Sonntag hat am 9.6.17 VivaVivaldi besprochen: Vogelstimmen im Mondschein, kostet aber 1 €, den Text herunterzuladen.)
Eine Vivaldi-Show in S. Appollonia wäre noch kein Themenpark, aber als Nächstes folgte im Juni mit der Ankündigung von "Magister Giotto" in der Scuola Grande della Misericordia ab 13. Juli.
Wieder keine Ausstellung, keine Veranstaltung, sondern diesmal eine "Erfahrung", an deren Entwicklung viele Fachmenschen mitgearbeitet haben, was der Sache den Anstrich eines wissenschaftlichen Projekts verleiht . Es ist das erste Produkt eines Formats "kultureller Unterhaltung" mit dem Titel "Magister" der Medienfirma Cose Belle d'Italia, dem in den nächsten Jahren 2 weitere zu Canova und Raffael folgen sollen.
Das Werk und das Leben Giottos wird in Themenkreisen (San Francesco-Fresken in Assisi, Wirkungsorte des Künstlers, Kreuzmalereien, Werke in Florenz, die Cappella degli Scrovegni, die Bilder des Halleyschen Kometen) als hochauflösende Projektionen übergroß in zu diesem Zweck geteilten Räumen des Obergeschosses präsentiert (im Raum von insgesamt 26.000 m3 auf 2 Etagen), es gibt kein Originalwerk Giottos zu sehen. Die Präsentation von 45 Minuten besteht aus Filmen des Regisseurs Luca Mazzieri von 2016 (siehe Trailer unten), also nicht etwa aus 3D-Rekonstruktionen, wie sie heute zur multimedialen Ausstattung vieler Ausstellungen gehören (z. B. von der TU Darmstadt entwickelt). Also eigentlich geht es um einen Kunstdokumentarfilm von 45 Minuten zu überhöhtem Eintrittspreis, der aber immerhin einen Blick in das großartige Gebäude erlaubt, wenn auch auf das Raumerlebnis der riesigen Halle der oberen Etage verzichtet werden muss, durch die Raumteiler.
Ich habe "Magister Giotto" nicht gesehen, kenne aber die Scuola Grande della Misericordia vor und nach der Renovierung und habe mithilfe der Informationen aus dem www eine Vorstellung, die mir erlaubt, auch hier einen gezielten und offiziellen Schritt in Richtung Disneyfizierung und "Themenpark Venedig" zu sehen. Technisches Massenprodukt mit eher geringem Anspruch in öffentlich reputiertem Gebäude + hohe Eintrittskosten (18 €).
Das Haus gehört der Stadt Venedig. Die Lokalpresse Venedigs diskutiert mögliche Funktionsvermischungen des Bürgermeisters Brugnaro, des Geschäftsmannes Brugnaro (Vorsitzender der Società Scuola della MisericordiaVenezia) und des Präsidenten Brugnaro des Sportsvereins Reyer, der zuletzt das Gebäude als Basketballhalle nutzte. Kritik betraf auch die Werbung für "Magister Giotto", eine gewerbliche private Veranstaltung, auf der offiziellen Seite der Stadt Venedig.
Freund*innen, vor allem eine Kunstvermittlerin, warnen mich vor Arroganz, wenn es um den populären Zugang zu Kunst geht. Aber sind arrangierte Samples plus explodierende Wände wirklich ein Zugang zum allbekannten Vivaldi? Sind riesige Detailaufnahmen in 3-Sekunden-Schnitten wirklich eine Einladung, sich in Giottowerke zu vertiefen?
Ist eine 45minütige Show ein Zugang zu Kunst oder Musik, wenn sich der Eintrittspreis einem Biennale-Ticket annähert, oder gleichwertig ist einem Piazza-San-Marco-Ticket mit Dogenpalast, Correr etc.?
Wie oben gesagt, es geht nicht um Kunst. Es geht um ein zu vermarktendes Produkt, dessen Investitionskosten über den Aufreißer Venedig refinanziert und weitere Absatzoptionen getestet werden. Angeblich gibt es bereits japanische Interessenten für die Vermarktung in Tokyo und Kyoto.
Wir wissen, dass sich der weltweite Boom von "Kreuzfahrten" als direkte Folge der U.S. Fernsehserie "Love Boat" (und dem internationalen Verkauf des "Formats", in deutscher Produktion als "Traumschiff") ab den 80er Jahren entwickelt hat. Venedig ist einer der Orte der Kreuzfahrtshows geworden. Sollen die in Venedig erfundenen "Kunstformate" à la Vivaldi und Giotto die künftige Kunstpräsentation und -wahrnehmung vorgeben? Mit dem entsprechenden "Zugang" und vor entschlossenen Gewinnaus- und -absichten droht Unsägliches.
Artribune schreibt am 19.8. Tutto Giotto, ma senza Giotto
Hat die Disneyfizierung einen weiteren offiziellen Fuß in der Tür zum Themenpark? Ich glaube schon.
Palazzo Grassi und Dogana zeigen "Treasures from the Wreck of the Unbelievable" von Damien Hirst - eigens für Venedig produziert, alle Exponate in 3facher Ausfertigung, für den Kunstmarkt.
Ich füge hier ohne weiteren Kommentar einen Auszug aus dem Kulturkalender des Blogs an: Unmengen Fotos und interessante Medienkommentare des Frühlings und Sommers. Tendenz: war wohl nix. Man kann vielleicht doch nicht alles verkaufen im Aufreißer Venedig.
23.2. Ein heutiger Text dazu aus dem Guardian.
10.3. Vorschau auf die Hirst-Ausstellungen.
26.3. nochmal der Guardian.
7.4. übermorgen Eröffnung für das Publikum - die Medien sind seit vorgestern in den "Depths of Bling". Artnewspaper, RealClearLife, Guardian, Telegraph, NY Times, ArtLyst, ArtNetNews.
9.4.: Monopol, Zeit (eine Notiz ohne Informationswert und Verfasser), Deutsche Welle.
10.4.: Deutsche Welle, Tagesanzeiger, Zitate aus dem englischsprachigen Feuilleton.
11.4. Blouin Artinfo, Artlyst.
15.4. Economist.
16.4. nochmal Guardian.
19.4. Artnet News mit Interessantem zum Thema Hirst und Kunstmarkt.
24.4. ArtnetNews (der 3. Artikel).
25.4. Chicago Suntimes. Das deutschsprachige Feuilleton ist nicht weiter interessiert oder ist das Schweigen schon als Kritik zu verstehen oder vielleicht doch als Provinzialität?
8.5.: pulse.ng - hat Damien Hirst Kunst aus Ife kopiert?
15.6. Tagesspiegel. (Das deutschsprachige Feuilleton lebt noch.)
6.7. Pambazuka News - eine afrikanische Stimme, nochmals zum Thema Plagiat
12.7. ArtNetNews zur venezianischen Verkaufsschau von Hirst
10.8. Hyperallergic ein wunderbarer Verriss ("brash and un-compelling")
13.8. Monopol äußert sich auch (abwinkend), nach immerhin 4 Monaten.
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