7. Februar 2018

Wenn die Tagesschau entwarnt...


... glauben wir, dass alles gut ist. Oder? Wenn nach einem Treffen des italienischen Verkehrsministeriums mit den Eignern des Hafens von Venedig der  Präsident des Hafens in positiven Formulierungen mitteilt, dass Schiffe von mehr als 55.000 Bruttorestistertonnen künftig einen anderen Weg in die Lagune nehmen und im Hafengebiet von Marghera docken müssen, reagieren die Medien mit Erleichterung. Wir auch. Oder? Hier die Tagesschau vom 8.11.2017.

Und einige weitere Medien, die sich des Themas - durchaus mit Problembewußtsein, aber blauäugig - annehmen: 
Der Spiegel: Venedig verbietet Kreuzfahr-Kolosse in der Altstadt
Welt: Venedig verbannt Kreuzfahrtschiffe von historischer Kulisse
Schiffsjournal.de Venedig verbannt große Pötte
Cruisetricks: Venedig: keine Kreuzfahrtschiffe mehr über 55.000 BRZ


Aber - Schiffe bis 55.000 brt werden auch weiterhin Venedig über die Stazione Marittima erreichen und dort auf direktem Wege und rund um die Uhr Feinstaub in Lungen und auf Weltkulturerbe emittieren dürfen.

Diese Riesendinger z. B. dürfen weiterhin in die Stadt:
Costa Allegra
Aida Aura
MSC Melody
Und diese künftig nicht mehr wie bisher, sondern müssen (in ein paar Jahren, wohlgemerkt!) via neu gebaggerte Kanäle durch die Lagune fahren und im ehemaligen Industriehafen Marghera ankern, wo der Feinstaub auch die 'Metropolregion' gut erreicht:
MSC Divina
Carnival Glory
Celebrity Solstice

Wieso glauben wir dem Geschwätz, das sei eine Verbesserung, geschweige denn "Verbannung der Kreuzfahrtschiffe"?




Anna Somers Cocks, die ehemalige Vorsitzende der Stiftung Venice in Peril, hat dazu in ihrem Medium "The Art Newspaper" einen kritischen Beitrag veröffentlicht, den ich hier verlinke
This is no way to solve the cruise ship issue in Venice

aber wegen der interessanten Details auch zum Teil übersetze:


Bei einem Treffen des 'Comitatone' (großes Komitee) für Strategiefragen zu Venedig auf Einladung des Ministers für Infrastrukturen, Graziano Delrio, wurde in Rom am 7.11. entschieden, dass weiterhin alle Kreuzfahrtschiffe, außer den größten, den Hafen von Venedig anlaufen. Dazu wird ihnen eine Route zur Verfügung gestellt, die nicht durch Venedig führt. “Es ist eine Frage schnell zu agieren und die Schlüsselrolle der Stazione Marittima (des Hafens von Venedig) zu garantieren”, sagte der Präsident der Region Veneto, Luca Zaia, der Zeitung La Nuova di Venezia.
Die Entscheidung bezieht sich auf einen derart skandalösen Sachverhalt, dass er eine der Gründe für die Drohung der Unesco ist, Venedig auf die Liste des gefährdeten Welterbes zu setzen. Gegenwärtig fahren 500-600 Schiffe - jährlich 1.000-1.200 Ein- und Ausfahrten - von bis zu 96.000 GT von der Adria durch die Öffnung beim Lido weiter durch den Giudeccakanal im Zentrum Venedigs und docken im Hafen von Venedig.

Den von Umweltwissenschaftlern und einigen Politikern favorisierten  Lösungsvorschlag - einen schwimmenden Hafen außerhalb der Lagune zu bauen, von dem aus Passagiere auf kleineren Transferschiffen in die Stadt gebracht würden - hat der Comitatone allerdings abgelehnt.
Die Entscheidung opfert die Ökologie der Lagune und deshalb potenziell die physische Zukunft Venedigs den kurzfristigen Interessen des Hafens von Venedig. Der ist in den Händen der Firma Venezia Terminal Passaggeri SpA, an der mächtige lokale und internationale Interessen, einschließlich der Region Veneto, Kreuzfahrtreedereien und dem Weltführer der Kreuzfahrtbetreiber, Global Ports Holding, Anteile halten (siehe weiter unten).

In seiner Absichtserklärung teilt der Comitatone mit, dass der Industriehafen von Maghera an der Landseite der Lagune für die gleichzeitige Aufnahme von bis zu drei der größten Kreuzfahrtschiffe (Tonnage ungenannt) angepasst werden soll, die bei der Öffnung von Malamocco im Süden Venedigs in die Lagune einfahren und einen in den 1060er Jahren für Öltanker gegrabenen Kanal nutzen sollen. Die Passagiere sollen mit Fähren von dort nach Venedig gebracht werden. Aber kleinere Kreuzfahrtschiffe (Tonnage wieder ungenannt) fahren ebenfalls bei Malamocco ein, folgen ein Stück der selben Route und drehen dann rechts ab in den Kanal Vittorio Emanuele III zum Hafen von Venedig. Damit dies möglich ist, muss der stillgelegte Vittorio Emanuele III von seiner bisherigen Tiefe von 6 m auf 9 m ausgebaggert werden, während der Kanal Malamocco-Marghera erweitert werden muss, um Platz für Hunderte zusätzlicher Passagen zu haben, die durch die Konkurrenz von Industrie- und Kreuzfahrtverkehr anfallen.

Dadurch entsteht großer Schaden. Zahlreiche von Experten begutachtete Studien (besonders: Fatti e misfatti di idraulica lagunare: la laguna di Venezia dalla diversione dei fiumi alle nuove opere alle bocche di porto, von Luigi D’Alpaos, Umweltingenieur der Universität Padua, 2010) beweisen, dass durch Tiefbaggerarbeiten in der Lagune seit den 1960er Jahren Lagunenufer, Schlickinseln und Sandbänke verschwunden sind, die Wellenkraft absorbierten, bei gleichzeitigem Sedimentverlust aus dem Bett der Lagune, das von durchschnittlich 4 cm auf 1,20 m absank. Mit anderen Worten, die Lagune wird Teil des Meers anstatt der schützende Puffer rund um Venedig zu bleiben, der sie immer war.
Der geschätzte Anstieg des Meeresspiegels auf Basis des Intergovernmental Panel on Climate Change von 2013 liegt bei 140 cm, multipliziert durch extreme Wetterereignisse. Das beweist die Sorglosigkeit um die Sicherheit eine der globalen Kostbarkeiten.   

Der venezianischen Interessenverband “we are here venice” drängte in einem Brief die frühere Generaldirektorin der UNESCO, Irina Bokova, und ihren assistierenden Generaldirektor, Francesco Bandarin, die UNESCO möge “mit uns die Regierung Italiens und relevante regierungsverantwortliche Institutionen Venedigs bitten, eine unabhängige und qualifizierte Projektgruppe einzurichten, die objektiv und mit interdisziplinärem Zugang die Frage der Kreuzfahrtschiffe bewertet”.


Existing and proposed new routes for the cruise ships
Existierende und vorgeschlagene neue Routen für Kreuzfahrtschiffe
The Art Newspaper

Die Anteilseigner der Venezia Terminal Passeggeri SpA (gegründet 1997 für den Betrieb des Stazione Marittima Hafens in Venedig, sind
- APVS (53 %),
- Finpax (22,18 %)
- SAVE (22,18 %) und
- Handelskammer Venedig, Rovigo, Delta Lagunare (2,64 %).

APVS ist eine Gründung der Venice Port Authority, Körperschaft des öffentlichen Rechts. Bis 2016 zu 65,98 % Eigentum der Veneto Sviluppo, einer Gründung der Regionalregierung des Veneto, und Venezia Investimenti, deren Anteile im Besitz von Carnival Group, MSC Cruises, Royal Caribbean, Global Ports Holding und Autorità Portuale Venezia sind.
Finpax besteht aus einer Gruppe lokaler Unternehmen, die an den Aktivitäten des Hafens beteiligt sind, während SAVE das Unternehmen ist, das den Flughafen Venedig führt.
Im Mai 2016 erwarb Veneto Sviluppo die erforderlichen Anteile, um APVS zu kontrollieren. Im August 2016 erwarb das in der Türkei basierte Kreuzfahrtunternehmen Global Ports Holding zwei große Anteile und hält damit 44,34 % von Venezia Terminal Passeggeri; es kaufte einen 48 %-Anteil von APVS von Veneto Sviluppo über Venezia Investimenti, die nun zu gleichen Teilen Global Ports Holding und Costa Crociere, MSC Cruises und Royal Caribbean gehört; und es kaufte einen 85,85 % Anteil an Finpax.






Die UNESCO hat mehrfach gedroht, Venedig und die Lagune auf die rote Liste des gefährdeten Welterbes zu setzen. Mit Stand vom Sommer 2017 steht z. B. Wien wegen eines einzelnen Hochhausbaus auf dieser Liste und riskiert damit die Streichung aus dem Weltkulturerbe, wie das schon Dresden im Jahr 2009 cool hingenommen hat.
Die nächste
Sitzung der UNESCO findet im Sommer 2018 statt, und wenn Wolfgang Wolters, der herausragende deutschsprachige Autor und Kenner venezianischer Architektur und Kunst (während eines Vortrags im Dezember 2017 in Köln) erbittert ausrief: "...auch Venedig wird rausfliegen, und es wird sie kalt lassen, im Gegenteil, denn ohne Rücksichtnahme auf dergleichen werden sie weiterhin in Ruhe Gewinne machen, und darum geht es - Welterbe hin oder her...!" wird es wohl so sein. 


Weitere kritische Disussionsbeiträge 
Comitato No Grandi Navi
La Nuova Venezia: Troppo fumi dalle navi, il riscio tumore cresce
La Nuova Venezia: Grandi navi, Venice cruise fa ricorso contro l'ipotesi Marghera
CityLab Venice fights back

Und dies ist das kritische Buch zur Zukunfts Venedigs, das jede*r Freund*in Venedigs kennen sollte. Es hat bei aller Klugheit und Wahrheit die eine oder andere Länge und ist vor allem emotional anstrengend - von Frustration, Erbitterung, und Verzweiflung umgetrieben musste zumindest ich die Lektüre immer wieder unterbrechen - aber egal, es muss gelesen werden.  
"Wenn Venedig stirbt" von Salvatore Settis. Der Perlentaucher zum Buch




Bisherige Blogeinträge zum Thema Kreuzschifffahrt in Venedig




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