G20 Wirtschaftsgipfel Venedig - der fehlte gerade noch
G20 Wirtschaftsgipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer im Arsenale von Venedig 8.-11.7. - erinnert uns das an Hamburg 2017? An Genua 2001? Und jetzt in der kostbaren, gefährdeten, schönsten Stadt des Weltkulturerbes? Da fehlen Worte und jedes Verständnis.
Bürgermeister Brugnaro setzt nicht alle Mittel ein, seine Stadt vor diesem Wahnsinn zu beschützen, sondern er ist stolz, der Welt das "große infrastrukturelle Werk MOSE" zu zeigen. (MOSE, das umstrittene Denkmal venezianischer Korruption und technischer Fragwürdigkeit.)
Die Associazione Veneziani Albergatori informiert ihre Mitglieder, die "rote Zone" sei eine Hypothese und empfiehlt "dringend, weiterhin Buchungen anzunehmen für diese Periode".
Eine "rote Zone" bedeutete für die Bewohner*innen meines Bonner Bundeshauptstädtchens zugeschweißte Gullydeckel, gesperrte U-Bahnhöfe, Scharfschützen auf den Dächern. In Berlin verteilt sich dergleichen besser und nur ein kleiner Teil der Bevölkerung nimmt die rote Zone wahr. Aber im kleinen Venedig dürfte das Leben tagelang stillstehen, der ÖPNV aus dem Ruder laufen, die Stadt von schwer bewaffneten Sonderkommandos wimmeln, ein Albtraum nicht nur in San Marco, sondern auch quer durch die Wohnquartiere von Santa Marta bis San Francesco della Vigna.
Auf die Stadt kommt die Logistik für 63 Delegationen à mindestens 5 Personen zu, zur vorhandenen Polizei, Finanzpolizei, Marine noch zusätzliche 1.500 Soldaten und Sonderkommandopolizisten, unterzubringen und zu verpflegen in 3 Sterne+Hotels. Wieviel internationale "Anarchoaufständische" (gemeint ist wohl der antikapitalistische Protest) auftauchen werden, weiß man nicht. Aufmerksamkeit für ihr Anliegen werden sie vermutlich wieder mit allen Mitteln suchen (siehe oben Genua, Hamburg...) wobei die Rücksichtnahme auf die 1000 Jahre alte Stadt sicher keine große Rolle spielen wird. Da aber die Covid-Einreisebeschränkungen weitgehend gelockert wurden (wegen der erhofften Tourist*innenmassen des Sommers) können sie unbesorgt ins Land und sich dem italienischen und venezianischen Widerstand anschließen.
Das Arsenale wird von einer "gepanzerten Sicherheitskette" geschützt, Kampftaucher stehen bereit, es wird in der Stadt (möglichweiser auch überraschende) Sperrungen und Kontrollen geben, die neue Überwachungszentrale auf dem Tronchetto ist im Einsatz, die Biennale schließt komplett vom 8.-11.7. (und richtet Ersatztermine für den Besuch ein). Aber ansonsten ist die Logistik geheimnisvoll, auch der aktuelle Bericht der Nuova vom 17.6. enthält keine aktualisierten Informationen.
Was heißt das für Besucher*innen? Pläne ändern, und sei es der erste, lang ersehnte 3-Tages-Besuch in Venedig. Raus aus der Stadt vom 8.-11.7. bzw. gar nicht erst rein; Übernachtungen stornieren bei gierigen Hotels, die gebucht statt gewarnt haben. Eine Ferienwohnung in der gesamtroten Zone Venedig sollte man sich sparen. Ein G20 Gipfel ist kein Urlaubsort, diesen Stress braucht niemand.
4 Tage in Chioggia, Padua, Verona sind eine feine Alternative und man verschenkt wenigstens nicht die für Venedig eingeplante Zeit.
Und, da wir immer noch in Pandemiezeiten leben (und deshalb eigentlich sowieso nicht unterwegs sind): der G7-Gipfel, der vor ein paar Tagen in Cornwall stattfand, war ein Superspreader für die umliegenden Gemeinden. Auch das braucht niemand im Veneto und keine Venedig-Freund*in.
Neues dazu:
24.6. Corriere del Veneto Venezia, G20 chiude i canali e devia i vaporetti. In arrvio 1500 agenti, rischio del black bloc
24.6. La Nuova G20 dei ministri dell'Economia a Venezia: chiusi undici rii attorno all'Arsenale
25.6. La Nuova Lavoratori del MOSE pronti all'agitazione se non otterano ciò che chiedono Die Arbeiter*innen aller am MOSE beteiligten Firmen drohen, den G20 Gipfel für gemeinsame Arbeitskampfaktionen zu nutzen.
28.6. Nuova informiert, dass lokal und regional Versammlungen und Demonstrationen unter dem Slogan "We are the tide, you are only G20" vorbereitet werden. Es sollen allerdings für Proteste nur Genehmigungen für den Lido und das Festland, keinesfalls für das historische Zentrum, geben. Begründet wird das auch mit der Anwesenheit von Tourist*innen in der Stadt (!). Erwartet werden wohl "Zehntausende" uneingeladener Gäste. Die große Zahl einheimischer Sicherheitskräfte + 1500 angereistes Onderkommandopersonal hoffen auch auf die beruhigende Wirkung der einheimischen Protestgruppen, die ja bisher keine Gewalt bei ihren Aktionen einsetzen.
2.7. ytali Il G20 economia e finanzia in una Veneza militarizzata
3.7. Informationen der Stadtverwaltung (Verodnungen hauptsächlich interessant für Einheimische):
Anlegen und Parken (von Booten); Passierscheine für Anwohner*innen und Beschäftigte im Sperrgebiet; Sperrungen von Kanälen; Plan zu Sperrungen von Kanälen und Aufhebungen von Vaporetto-Haltestellen.
In allen offiziellen Informationen wird betont, die Stadt sei in den Tagen des G20 Gipfels "einladend, offen und sicher" wie immer. Was natürlich Unsinn ist.
Die Nuova, schreibt, dass das Arsenale komplett geschützt und vom normalen Verkehr ausgeschlossen sei. Krankentransporte z. B. vom Lido müssen den Umweg durch die Laguna Nord über Murano nehmen. Auch der Canale della Giudecca sei gesperrt (deshalb z. B. auch kein Kreuzfahrtverkehr). Bürger*innen-, Bewegungs- und Protestfreiheit seien laut 'Kommissar von Venedig Maurizio Masciopinto' in der kommenden Woche "garantiert". Der 'Kommandant der Stadtpolizei, Marco Agostini' verspricht "die Gewährleistung des Verkehrs im gesamten historischen Zentrum außer dem Arsenalegebiet".
Mit Einschränkungen allerdings im ÖPNV - Umwege und die Haltenstellen Arsenale, Bacini und Celestia komplett außer Betrieb, anscheinend auch die Haltestelle Ospedale, auf die immobile Bürger*innen besonders angewiesen sind.
Alle Tagungsteilnehmer*innen sollen alle 48 Stunden Covid-Schnelltests unterzogen werden. Das Ospedale ist in Bereitschaft und richtet auch innerhalb des Arsenale eine Sanitätsstation ein.
Zu ergänzen ist, dass weder zahlende noch unerwünschte Gäste Covid-getestet werden - weiße Zone, alle Reisebeschränkungen und sogar die Maskenpflicht sind aufgehoben.
3.7. Nuova: Die vereinten politischen Gruppen vor allem aus dem Umweltbereich planen 2 Aktionstage am 9. und 10. 7. an den Zattere; Lido kommt für sie nicht Betracht.
4.7. ytali Inlucchettati da G20 Fotobericht über die Installation der Absperrgitter zwischen S. Martino und Arsenale Nord. (Auch die Rampe vor "meinem" Küchenfenster an der Celestia ist off limits )
4.7. G20 coming to town Erla Zwingles Venedig-Blog "I'm not making this up" zum Thema.
5.7. Die Nuova berichtet über den Einsatz von Gittersperren, Unterwassersperren und Fehlarmen (unklar anscheinend, ob Übungsalarme oder Provokationen).
7.7. In der Nuova tröpfeln weitere Informationen: Im Becken von San Marco ist Wasserverkehr von 8-10 und 16-18 Uhr verboten (also der 'Berufsverkehr'). Die Strecke von Accademia bis Punta della Dogana ist ganztags gesperrt, ebenso die Arsenalumrundung auf dem Wasser. Die Anpassungen bei den ÖPNV-Linien wurden gestern veröffentlicht - Venedig, wie immer auf den letzten Drücker. Siehe Details bzw. Links im Eintrag zu den derzeitigen Fahrplänen. Das Ospedale wird mit einem 10-minütigen Shuttleservice versorgt. Wenn sich die G20 Minister in der Stadt bewegen (Dogenpalast, Fenice) werden kurzfristig Anlegestellen eingerichtet bzw. Anlegeverbote bekanntgegeben. (Die Besichtigung des MOSE wurde abgesagt (den zu besichtigen, wäre doch wirklich interessant gewesen!). Lokale Polizei und Freiwillige des Zivilschutzes proben den Notfall, Hubschrauber kreisen seit gestern über dem östlichen Stadtbereich. Ungewohnte Belästigung der Anwohner*innen der stillen Nachbarschaften in Castello.
7.7. RAI Veneto Venezia: i luoghi del G20 e la sicurezza
8.7. RAI Veneto Venezia, in volo sul G20 con la Guardia di Finanza
Am 8.7. 17:30-23 Uhr ist die Haltestelle S. Giorgio außer Betrieb. Wegen einer Veranstaltung der G20 ist die Insel in dieser Zeit geschlossen.
Am 9.7. bleibt der Dogenpalast aus Sicherheitsgründen geschlossen.
9.7. La Nuova G20, Venezia 'invasa' dalle forze dell'ordine. Video: Auftritt der Sicherheitskräfte, Einschränkung des lokalen Business.
Nachwort
Die politischen Ergebnisse des Wirtschaftsgipfels konnten wir in den Medien verfolgen.
Die Bewohner*innen Venedigs mussten die Sache über sich ergehen lassen und beklagten sich (wie immer energisch) über abgeschreckte Gäste, Passierscheine, Kontrollen und Behinderungen, Verbote des Wasserverkehrs und Chaos beim ÖPNV.
Die befürchtete Invasion "schwarzer Blöcke" und "Anarchoaufständischer" wurde allen erspart. Die Anarchoaufständischen waren klug genug, sich aus einer Stadt rauszuhalten, die einerseits komplett unter Kontrolle der Überwachungszentrale steht, andererseits keinen Aufmarsch ermöglicht, ja durch die vielen Gassen quasi verbietet. Zum Protest an den Zattere versammelten sich ein paar hundert Venezianer*innen, und der rein symbolische Anlauf, zum Arsenale zu ziehen, wurde schon am rio terrà Foscarini beim Campo S. Agnese beendet.
Die Stadt ist heil geblieben, San Marco sei Dank, und es bleibt zu hoffen, dass der Beweis der Sicherheit Venedigs niemanden animiert, bei Gelegenheit dort weitere Gipfel zu veranstalten.
Das Schlusswort hat ytali. vom 12.7.: Venezia, un po' come Genova mit einer kleinen Fotostrecke vom Ort des Geschehens am rio terrà Foscarini.
Performance Biennale 2017 |
.
2 Kommentare:
Hallo, ich bin "unwissend" (vor)letzte Woche vom 6. bis. 10.7. in Venedig gewesen und hatte diesmal in Dorsoduro gebucht, hatte mich diesmal überwiegend auf ultra Canal Grande beschränkt und kam cis Canal Grande nicht über Cannaregio und San Marco hinaus. Genervt hat mich lediglich ein immer wieder kreisender Hubschrauber und erst an meinem letzten Tag konnte ich den dann nach mal Nachrichten hören endlich dem G-20-Event zuordnen, von dem ich ansonsten nichts bemerkte. Selber habe ich also keinerlei direkte Behinderung erlebt.
Martin Schmidt-Bredow
Lieber Herr Schmidt-Bredow,
danke für Ihren Kommentar. Da haben Sie doch "unwissend" fast ungestört Venedig geniessen dürfen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten 2 Tage Biennale fest eingeplant und hätten darauf verzichten müssen - was für ein Ärger! Die Beeinträchtigungen waren wohl tatsächlich räumlich sehr begrenzt, bis auf den Helikopter, der ganz Venedig genervt hat. Dergleichen ist man nicht gewöhnt - sogar der Helikopterlandeplatz des Ospedale wurde sofort nach seinem Bau dauerhaft außer Betrieb gestellt. Baugesetze...!
Schöne Grüße
Kommentar veröffentlichen