14. Januar 2012

Pellestrina - ein Sonntag zwischen Lagune und Meer


Pellestrina habe ich trotz einiger Besuche nicht genügend Aufmerk-
samkeit geschenkt. Leider. Diese Insel kam bisher nur im Zusammenhang mit
Strand, Sport, Naturschutz u. ä. vor. (Und mit Musik.)

Bei diesem Besuch ging es um die Kirchen auf Pellestrina, vermutet hatte ich 2-3, oder so, es stellt sich heraus: es sind tatsächlich 5! Der Plan: die Öffnung der Kirchen am Sonntagmorgen (Gottesdienstzeit) zu nutzen, um alle auf einmal 'einzusammeln'.
Ognissanti, 'Duomo' von Pellestrina

Frühes Vaporetto vom No
rden Venedigs zum Lido, ein paar Schritte zum Bus 11 nach Pellestrina zur Endhaltestelle Piazzale Caduti del Giudecca, ein kleiner Kaffee an der Imbissbude, die den wunderbarsten Sonnenuntergang der Lagune offeriert und ein paar 100 m zurück nach Norden zur ersten Kirche, Ognissanti.

Wohinein ich gerade einen Blick werfen konnte, bevor die Bevölkerung mit der dörflichen Blaskapelle aufmarschierte und ich die Batterien meines Knipserchens wechseln musste.


Denkmal für die Opfer der Versenkung der 'Giudecca' 1944

Der Anlass ist ernst, es geht um das Gedenken an den anstehenden Jahrestag der Versenkung des Personenschiffes Guidecca mit 200 Passagieren an Bord am 13.10.1944 direkt am Ufer vor Ognissanti. Wird aber verbunden mit einer Art 'Saisonschlussfeier' sagt mir ein älterer Mann und das wird sich auch noch zeigen im Laufe des Tages.
Zum 'Alzabandiera' wie man es auch sonntäglich vom Markusplatz kennt, ist das Knipserchen wieder einsatzbereit.

Die Kirche Ognissanti wurde zum ersten Mal im 12. Jahrhundert gebaut, im 14., 17., und 19. renoviert (und erweitert, vermute ich angesichts der heutigen Größe) und ist nicht nur eine Pfarrkirche, sondern auch Sitz eines Erzpriesters laut Hinweis auf der Fassde. Bemerkenswerte Seitenaltäre und Orgel aus der Werkstatt Gaetano Callido (laut Hinweisschild).

Viele Erben verderben...










Während die Bevölkerung die nächste Stunde in Ognissanti versammelt
ist, wandere ich in sonntäglicher Stille auf der Lagunenseite Richtung Norden. Links Fischerboote, Lagune, die Kette der Euganeischen Hügel, rechts Inselhäuschen und -gassen und hin und wieder eine kleine Villa im üblichen dreiteiligen Aufbau mit dem höheren Mittelgiebel, ein paar Gewerbe- und Sportflächen, moderne Reihensiedlungen. Und plötzlich hinter einer Straßenbiegung die nächste Kirche.

L'apparizione, rechts der Anbau des ehemaligen Klosters
SS. Vito e Modesto


Oktogonal, 'Beata vergine dell' apparizione'; überraschend finde ich eine junge Frau mit einem sehr aktiven Kleinkind in der Kirche, von der ich mir die 'apparizione' erklären lasse.
Die Selige Jungfrau erschien zunächst einem Jungen und sagte ihm korrekt den venezianischen Sieg im aktullen Türkenkrieg voraus. Es folgten weitere hilfreiche Auftritte der Jungfrau, bei denen arme Familienväter zu Geld kamen oder arme Familienmütter ihre hungrigen Kinder gefüttert vorfanden, etc.; geglaubt wurde die Türken-
geschichte, denn die Erscheinung fand (wieder
laut Schild) ca. 1716 statt.

Der letzte Krieg ge
gen das osmanische Reich an dem Venedig beteiligt war endete 1718 mit dem Frieden von Passarowitz. Ein wundertätiges Bild der Vergine befindet sich auf dem Hochaltar, und es ist offenbar ein lokales Werk, kein in den griechischen Kolonien geklautes.


Website zur Kirche der Apparizione

Im ehemaligen Kloster SS. Vito e Modesto

Als Dank für die Unterstützung ließ die Serenissima Andrea Tirali die Kirche der Apparizione bauen, beendet 1728, keine Hinweise auf Renovierungen. Von der Frontseite nicht zu sehen sind zwei sehr kleine Türmchen, die mich an die 'Minarette' Palladios an der Redentore-Kirche erinnern. Ein Gruß Andrea Tiralis an die besiegten Osmanen?


Sie steht an der Stelle der früheren Klosterkirche SS. Vito e
Modesto, das Kloster war zum Zeitpunkt des Neubaus wohl schon aufgegeben, steht aber in Teilen heute noch. Offensichtlich wurden vor einiger Zeit Renovierungen in diesem Gebäude begonnen aber nicht beendet, die Baustelle steht offen und ungesichert, Material etc. liegt überwuchert und kotbedeckt wohl schon länger herum, es ist ein Jammer. Wer immer die BesitzerInnen sind: ein Jammer!


Es folgt ein Schlenker an die Adria, die ja nur ein paar hundert Meter weiter rechts liegt an dieser schmalen Insel, Gelegenheit, durch den Sand zu pflügen und die Beine ins Wasser zu stellen. Die Lagunenseite ist mit einer zwar kleinen, aber durchgängigen Mauer abgegrenzt, auf der es sich aber immer wieder herrlich sitzen und auf die Laguna sud blicken lässt. Der Schlenker kostet mich den Besuch der nächsten Kirchen (deren Zahl mir zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht klar war!), denn damit wird es Mittag, die Kirchen gehen zu, die Trattorien decken die Tische.

Ruderverein
Pellestrina, Regatta und Party zum Saisonende










Vor dem Mittagessen gibt es aber noch die Feierlichkeiten zum Saisonschluss: eine Ruderregatta der Jugend Pellestrinas, brüllende Trainer, Begeisterung entlang der Ufermauern, anschließend werden die Boote aus dem Wasser gekrant und über die Uferstraße bei mittlerweile starkem Autoverkehr ins Gebäude des Rudervereins geleitet, wo im Hof bereits bei Musik gegrillt wird.

Es wird überall ziemlich laut, viel Mitteilungsbedürfnis, Gelächter; und eine große organisierte Fahrradtour, die sich schon am frühen Morgen an der Vaporettostation des Lido an einem Infostand sammelte, ist inzwischen bis hierhin gekommen. Kurvt den lokalen Aktivitäten mit immer neuen Radfahrgruppen ins Gehege, aber irgendwann sind alle in den Wirtschaften entlang des Ufers verschwunden und die Straßen wieder frei.


Ich stand vor der mittlerweile verschlossenen Kirche Nr. 3, Sant'Antonio. Wie schon Ognissanti sehr groß für so eine kleine Insel, erbaut zunächst als Kapelle im 17. Jahrhundert, im 18. erweitert, ausgestattet mit einer Orgel von der persönlichen Hand Gaetano Callidos. Sagt das Schild.

Obwohl der Campanile groß ist, sieht man ihn nur wenn man um die Kirche herum geht, am besten bewundert man ihn von den Murazzi oder von der Lagune aus.

Langweilige Fassade Sant'Antonio und Totale von der Höhe der Murazzi, Lagune im Hintergrund


Es folgt ein weiterer Schlenker -
rein in den Bus Richtung Norden der gerade vorbei kommt, ein paar Stationen bequem absolviert - raus aus dem Bus in Portosecco. Dazwischen liegen hauptsächlich Felder und Schilf, jedenfalls keine Ortschaft, Portosecco ist wieder ein schönes Inseldorf.

Links Fischerboote in faszinierend chaotischem Zustand, rechts gepflegte Häuser... und in der Lagune, nicht weit
vom Ufer, diese abenteuerlichen Pfahlbauten deren Funktion mir nicht klar ist. Völlig verschieden von den properen Fischerhütten in der Laguna nord und in den Lagunenausfahrten, geradezu Symbole von Individualität und Kreativität! Vielleicht auch nur Schrott, aber ein inspirierender Anblick!





Der nächste Kirchtum ist in Sich
t, mit einer Kuppel, die eher woanders hingehört als auf eine venezianische Insel. Santo Stefano, nicht direkt am Ufer, aber Teil eines schönen Gebäudeensembles. Wiedererbaut 1646, keine Auskunft über den Vorgängerbau, aber eine Reliquie des heiligen Stefano sei hier vorhanden. Eine große Inschrift an der Kirche kündet von einem früheren Besuch des "Pontifex maximus in Begleitung von fünf Kardinälen und vielen Prälaten".

Santo Stefano in Portosecco

Der lagunen-
seitige Weg führt weiter durch die Gassen nach Norden, es ist so leer wie am Morgen, da die ganze Insel mittlerweile gut gegessen hat
und weiter in den Gaststätten sitzt, vernehmlich bester Laune, es ist ein sehr warmer Oktobersonntag, die Fenster stehen offen, Musik, Gelächter, Gesang.

Ich erreiche S. Pietro in Volta und die fünfte Kirche, S. Pietro. Erbaut im 16. Jahrhundert, wieder gebaut 1777-1844, das scheint ein langer und sehr genau definierter Zeitraum zu sein, darüber wüsste man gerne mehr, aber mehr Informationen stehen leider nicht zur Verfügung.
S. Pietro in S. Pietro in Volta

Statt
dessen gibt es vor der Kirche eine kleine Grünfläche mit Bäumen und Bänken in ihrem Schatten, wo ich für den Rest des Nachmittags hängen bleibe, es gibt so viel zu sehen. Sportliche Ruderer - Einer, Zweier, Vierer; laut beschallt vorbeirasende Jugendliche; große Frachter unterwegs vom Chemieindustrie-
gebiet in Marghera zum nahen Porto die Malamocco; Motorjachten diverser Ausstattungen; Segler mit u
nd ohne Motor, Segel gesetzt oder nicht; ein Mann der weit draussen in Gummihosen im Wasser steht, mit einem Netz in der Hand (Einsatz meines Opernguckers). Tiere im Wasser, in der Luft, zu meinen Füssen.

Ein wunderbarer Inseloktobersonntag. Auch ohne Sonnenuntergang an der Imbissbude.

Ergänzung am 30.1.2012:

LeserIn Aldebaran, dem dieser Blog schon viele interessante Kommentare verdankt, schickte mir freundlicherweise per Mai ein wunderbares Foto des einzigartigen Sonnenuntergangs von Pellestrina. So prosaisch im wahren Leben eine Tankste
lle ist, mitten in der Lagune kann ihre poetische Seite zum Vorschein kommen. Diese liegt am Knotenpunkt Endstation Buslinie 11 - Vaporetto nach Chioggia - Kaffee/Imbissbude am Ufer, mit weitem Blick über die Laguna Sud.

Foto: Aldebaran

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3 Kommentare:

eichinger georg hat gesagt…

was für schöne fotos, vor allem das erste mit der wand und dem fenster...(complimenti)
georg

Visiting-Venice.com hat gesagt…

Sehr interessant. Vielen Dank

Jutta hat gesagt…

Angeregt durch diesen Beitrag haben wir einen Sonntagsausflug nach Pellestrina unternommen, der sich auch Ende Januar lohnt. Wir sind die Strecke fast komplett zu Fuß gelaufen.
Man sollte keine Angst vor kräftigem Wind haben und eine Thermosflasche mit einem Heißgetränk mitnehmen, offene Bars sind um diese Jahreszeit nämlich sehr rar. Wir haben allerdings nur eine Kirche offen erlebt, weil wir gleich in der Bar gegenüber der ersten Kirche bei Spritz und Cicchetti hängengeblieben sind.
Vielen Dank an für die Anregung !
Jutta