San Giovanni Battista in Bragora
S. Giovanni Battista in Bragora links die ehem. Scuola (nach hinten verkleinert zugunsten der späteren Seitenaltäre links, rechts der verkürzte Kampanile |
Wie bei S. Zaccaria und S. Giorgio dei Greci rate ich zum frühen Besuch, wenn die Morgensonne durch die Ostfenster fällt. Überwältigend. Das mit blauem Himmel leuchtende Altarbild "Die Taufe" von Zambattista Cima da Conegliano fordert sofortige Aufmerksamkeit, und wer wie ich immer ein Opernguckerchen mitschleppt, fängt sich einen umwerfenden direkten Blick aus den Augen des Täuflings.
San Giovanni in Bragora gehört zu den ältesten Kirchen Venedigs, gegründet im 7. Jahrhundert auf einer der ersten bewohnten Sandbänke, aus denen Castello werden sollte. Man darf sich ein Holzkapellchen vorstellen, ein paar Hütten; Quellen belegen 811 bzw. 829 die erste steingebaute Kirche eines Giovanni Talonico. (Das Besiedelungsprinzip der Lagune: ein paar Hütten & ein paar Häuschen aus Stein für die Besser-
gestellten & eine Kirche pro Inselchen führte multipliziert zur einzigartigen venezianischen "Stadtplanung" der regelmäßigen Verteilung. Keine reiche Leute/arme Leute-Viertel. Die Dichte der 'Palazzi' am Canal Grande (all die enormen Corner-, Giustiniani-, Vendramin- etc. Bauten) entwickelte sich erst langsam und viele Jahrhunderte später, indem kleinere alte Vorgängerbauten ersetzt wurden.)
Einweihungsstein 1505 |
Belegt sind eine notarielle Schenkung 1090, für die ein Priester von S. Giovanni in Bragora als Zeuge fungierte, die Renovie-
rung der Fundamente 1170, danach Pfarrkirchenfunktion, weitere Renovierungen 1178, 1206, 1260, 1297. Der Bau hat sich verändert im Lauf der Jahrhunderte, 1472 war er so stark einsturzgefährdet, dass ein Melchior Rizzardi die Gesamt-
renovierung übernahm. Die quasi neue Kirche wurde 1505 eingeweiht, Zeugnis dafür ist der Stein in der Wand links vom Haupteingang. Es ging weiter mit baulichen Ergänzungen im Innern (Korridor, Balkon) 1522 und 1596, der Boden wurde erneuert und dabei erhöht (hochwasserangepasst) 1740. Eine weitere Komplettrenovierung wurde 1877 finanziert durch das Gemeindemitglied Carlo Biondetti.
Der Campanile wird erstmals erwähnt im Kataster von 1260, 1560 stürzte er ein und wurde verkleinert erneuert. Die Friedhofsnutzung (auf dem jetzigen campiello hinter der Kirche) wurde bereits 1528 eingestellt, die Bestattungen der Gemeinde erfolgten danach auf S. Pietro di Castello.
Altarbild "Il Battesimo" Giambattista Cima da Conegliano. Leider stört die (Automaten-) Beleuchtung von vorn den Eindruck des strahlend hellblauen Sonnenaufgangs in der oberen Hälfte des Bildes |
Große Bedeutung erhält die Kirche durch Reliquien Johannes des Täufers, die ein weiterer Talonico, nämlich Domenico, besorgt (wie sowas funktionierte, wissen wir aus der Markuslegende) und schenkt. Das war während des Dogats von Pietro Candiano III (942-959), unter dessen Portrait im großen Ratssaal des Dogenpalastes steht "sotto di me nella chiesa di Bragola fu deposte le reliquie di S. Giovanni". In der Folge ist S. Giovanni in Bragora der einzige Taufort Venedigs bis ins 12. JH, erst danach erhielten wegen des Anstiegs der Bevölkerungszahlen weitere Kirchen die 'Taufwürde'.
Die Bedeutung der Nachbarschaft entwickelte und steigerte sich im Laufe der Jahrhunderte: das Arsenale mit den umge-
benden Wohnvierteln der Arsenalotti; den Einwanderungen von den Kolonien an den Küsten der Adria und der Ägäis von Seeleuten, aber auch Künstlern und Wissenschaftlern vor allem nach diversen osmanischen Eroberungen: Konstantinopel 1453, Zypern 1571 und 100 Jahre zuvor Negroponte (Evvia) 1470; die Kirchen S. Biagio (erstes Dokument 1106), S. Martino (Gründung 7. JH), Sant'Antonin (Gründung 8. JH), S. Sepolcro (Gründung 15. JH) mit ihren vielen kleinen Bruderschaften und Altären der Arsenale-Handwerker.
S. Nicolò, kretisch-venezianisch, 16. JH. obere Reihe von Heiligenportraits nachträglich eingefügt |
S. Biagio, das Gebäude der Scuola di Sant'Orsola bei SS. Giovanni e Paolo und S. Giovanni in Bragora wurden von der griechischen Gemeinde für orthodoxe Gottesdienste genutzt, bis 1539 S. Giorgio dei Greci gegründet wurde. Die Bruder-
schaft der Griechen existierte als Scuola di S. Nicola dei Greci schon seit 1498 an dieser Stelle des rio di San Lorenzo. In nächster Nähe zu S. Giovanni in Bragora ließ sich 1451 die dalmatinische Bruderschaft der Scuola di S. Giorgio degli schiavoni nieder. Die Templer hatten Kirche und Ordenshaus in der gleichen Gasse (erstes Dokument 1109), die später von den Johannitern von Rhodos, die nach der osmanischen Eroberung der Insel Ritter von Malta wurden, übernommen wurden. S. Sepolcro, direkt am Ufer des Hafens (heute Caserma Cornoldi) war als Nachbildung des Hl. Grabes Anlaufpunkt von Pilgern nach Jerusalem, Pauschaltouristen der Zeit, die hier ihre Überfahrt antraten oder, im ungünstigen Fall, nicht Jerusalem, aber doch immerhin das venezianische Hl. Grab besucht hatten.
Auch Rückkehrer aus den Kolonien wurden von der Serenissima in dieser Nachbarschaft angesiedelt, z. B. die Familie Moro-Malipiero nach der Eroberung Candias (Kretas) 1669 durch die Osmanen, die als Kompensation ihres Verlustes das Haus gegenüber von Sant'Antonin erhielt, das jetzt die spätere Inschrift "Ospizio povere ragazze" trägt.
Eine Nachbarschaft also, die über die Jahrhunderte stark levantinisch geprägt war, in der viele Sprachen gesprochen und Kulte gepflegt wurden.
Ikone der Odigitria, kretisch-venezianisch, 17. JH Schaukasten voller Reliquiarfläschchen |
In S. Giovanni in Bragora ist der griechische Aspekt bis heute erhalten durch Werke unbekannter kretisch-venezianischer Künster: eine Kreuzigung aus dem 16. JH zwischen mittlerer und rechter Apsis; in der 3. linken Seitenkapelle (capella S. Teresa d'Avila) eine Odigitria aus dem 17. JH in einem barocken Holzrahmen. Sie hing früher an der Pietà-Brücke, hochverehrt von den seefahrenden Teilen der Bevölkerung, wurde 1638 in die Bragora gebracht. An der Brücke hängt seitdem eine andere Marienikone. Wunderbar ist die Tafelikone S. Nicolò aus dem 16. JH mit sehr feinen Szenen aus dem Leben des Heiligen. (Der manchmal etwas schnauzige Herr, der sich um das angemessene Benehmen der BesucherInnen kümmert, kann sehr freundlich sein. Nach einem kurzen Gespräch öffnete er mir das Gittertörchen und ließ mich die leider sehr hoch an der Seitenwand hängende Ikone näher betrachten.)
Sargdeckel S. Giovanni Elemosinario, 15. JH |
Zur griechischen Geschichte der Kirche gehört auch die Seitenkapelle rechts für den Hl. Johannes Elemosinario (der Almosengeber), ein orthodoxer Heiliger, Patriarch von Ägyp-
ten, Feiertag 12. November, dem in Venedig außerdem eine ganze Kirche auf dem Rialto gewidmet ist. Die Kapelle wurde 1481 von Antonio Rizzo entworfen und von der griechischen Gemeinde Venedigs in einer Sammlung 1494 finanziert. Die Kapelle wurde mehrfach erneuert und 'verschönert', deshalb ist bis auf 'Cristo benedicente' und den Deckel des Sarges von Tedesco nichts mehr davon erhalten. Und natürlich die Leiche des Heiligen, die 'auf venezianische Art' von Admiral Lorenzo Bragadin schon 1249 aus Ägypten beigeschafft wurde, dar-
gestellt auf dem großformatigen Gemälde und ausgestellt in der Kapelle.
Auch die ursprüngliche Raumgestaltung war zum Teil griechisch mit einer Art Ikonostasis, die Ende des 16. JH entfernt wurde, um den Altar von der Apsiswand nach vorne abzurücken. Erhalten davon sind nur die beiden quadratischen Säulen vorne im Kirchenschiff. Im Zentrum der Ikonostasis, jetzt linke Apsiskapelle, hing früher das Holzkreuz von Leonardo Tedesco, 15. JH, Kreuz und Körper wurden (eine Seltenheit) gleichzeitig aus verschiedenem, aber gleich alten Material hergestellt und sind eine der bedeutendsten Holzskulpturen in Venedig.
2 quadratische Säulen, Reste der ursprünglichen Ikonostasis, entfernt im 16. JH |
Beschädigte, aber großartige Vivarini-Madonna |
reliquie, darunter 3 'quadretti' zum Wirken Elenas: auf dem Thron sitzend, das 'Wahre Kreuz' suchend, ein Toter, das Kreuz berührend.
Daneben Werke der Vivarini-Werkstatt (Bartolomeo, Alvise, Antonio); Bildnis des Redentore von Alvise, 1498, darunter 3 quadretti (der Redentore/Erlöser, S. Marco, S. Giovanni Ev-
angelista); Cristo ristorto, Cristo bendicente (linke Kirchen-
seite); Madonna aus der zerstörten Kirche S. Severo, beschädigt in der unteren Hälfte durch eine misslungene Restaurierung; Triptychon Madonna, S. Giovanni Battista, Sant'Andrea.
Pietà tedesca, 15. JH, im nicht ganz passenden Rahmen |
Eine große Grabplatte im Mittelgang vor der Apsis trägt den Namen Insegner: das ist der 'Künstlername' der Orgelbauer-
familie Dagli, die die erste Orgel 1486 lieferte und über einige Generationen die Wartung und 2 Reparaturen verantwortete.
Grabplatte Orgelbauer Ingenerio |
anischer Kunst, ob griechisch, italienisch oder deutsch, meist gut gehängt/gestellt zur eingehenden Betrachtung und von hoher Qualität. Ich habe das Gefühl von Übersichtlichkeit und Klarheit, auch eines historischen Rahmens. Für mich ist die Kirche ein 'Gesamtkunstwerk'.
Die historische Religiosität der Reliquienverehrung nehme ich natürlich einerseits ernst, (siehe auch Eintrag Bessarions Stavrothek) andererseits bin ich ja sehr empfänglich für die komische Seite der Dinge, und Reliquien gehören eindeutig dazu, S. Giovanni in Bragora bietet dazu Großes.
Nicht nur gibt es den kompletten S. Giovanni Elemosinario und seine herrliche Wanderungsgeschichte zwischen Castello und dem Rialto, sondern die 3 linken Seitenkapellen (nachträgliche Anbauten zwecks Balance der alten Kapellen der rechten Seite) sind mit einer unglaublichen Zahl von Reliquien, teils nur in Form von Knochensplittern, teils in überraschend dekora-
tiver Anordnung, ausgestaltet. Mir fielen sie erst nach einigen Besuchen auf, in denen ich, immer hingerissen von den Kunstwerken, den etwas wuschelig wirkenden dunklen Kapellen keine Aufmerksamkeit schenkte. Man muss also etwas genauer hinsehen und sollte sich auch nicht durch die Schädelchen der "Unschuldigen Kinder" aus Bethlehem, naja, schockieren lassen, sondern den festen und ungetrübten Volksglauben bewundern, der hier - immer noch - seinen Ausdruck findet.
Reliquien des Kindermords in Bethlehem |
Der religiösen Praxis der vielen Bruderschaften in dieser Kirche kann man, im Gegensatz zu einigen anderen Kirchen in Castel-
lo, nicht mehr nachspüren. Erhalten sind nur die 'Pietà tedesca', das Altarbild der Sabbionai (Triptychton von Bissolo rechts der Seitentür: Sant'Andrea, S. Martino, S. Girolamo, und das Altarbild der Bruderschaft von Sant'Andrea: das Vivarini-Triptychon links der Seitentür. Ihren Platz hatten hier bis zur Aufhebung durch napoleonische Gesetze die Bruder-
schaften der Sabbionai (Sandtransporteure) Filacanevi ("Schneespinner" Seilflechter in den Corderie des Arsenale), des Allerheiligsten, von San Giovanni, von Sant'Andrea, der Annunziata (Verkündigung), des Rosario (Rosenkranzes), der Fürbitte für die Toten (suffragio dei morti), des Crocifisso (Kruzifix), der Sacerdoti (Priester), der Fraterna dei poveri (Brüder der Armen). Von einer Kirche hochgerechnet auf alle, gewinnt man eine Idee von der Zahl und der sozialen Bedeutung der venezianischen Bruderschaften, auch der kleinsten, jenseits der großen und privilegierten großen Scuole.
Reliquarienschaukästen |
Die Kirchenfeste um die Kirche herum, mehrfach im Jahr, sind beliebt und stimmungsvoll. Das nächste findet in Kürze, am letzten Wochenende im Juni statt. Plakate mit dem Programm hängen im Sestiere aus.
Seiteneingang auf dem Campiello del piovan |
Website S. Giovanni in Bragora
Save Venice - Restaurierungen in S. Giovanni in Bragora
Übrigens: eine Zeitgenössische Kirche Sant'Erasmo auf Sant'Erasmo zitiert die Fassade von S. Giovanni in Bragora |
.