18. Juli 2017

"Respekt" Kampagne in Venedig


Ein Foto "ohne Massen"
22.6. 2014 5:30 Uhr morgens auf dem Canal Grande

Vor einigen Tagen rief auf Twitter eine venezianische Stadtführerin dazu auf, Fotos hochzuladen, die "Venedig ohne Massen" zeigen. Haha! Netter Versuch! Bis zum Ende dieses Jahres werden in der schönsten Stadt 30 Millionen Besucher*innen erwartet, eine gewisse Panik und irrationale Reaktionen sind nicht verwunderlich. 
In einer Internetgruppe internationaler Venedigwissenschaftler*innen, in der es sonst themenzentriert hergeht, sagte vor 2 Wochen ein venezianischer Professor: "Venedig stirbt nicht - es ist tot." Und eine amerikanische Professorin antwortete: "... es ist nicht tot - sie haben es nur in Disney World Venezia verwandelt. Das ist schlimmer als der Tod, nach meiner Meinung - besonders für die unter Euch, die versuchen, ein Leben in der Stadt zu leben und uns alle, die ihre Geschichte in Ehren halten." 
Auch ich denke, dass Venedig nicht im Wasser der Lagune untergehen wird, sondern in den Veränderungen, die von der gewählten Stadtverwaltungen seit jahrzehnten geduldet und gefördert werden, und der Gier, mit der rasend ausgebeutet wird, was in anderthalb Jahrtausenden von Menschen aufgebaut wurde.

Ein Teil des Problems ist, dass Venezianer*innen ihre Immobilien verkaufen oder vermieten als Ferienwohnungen und aufs Festland ziehen; diejenigen ohne Besitz gehen notgedrungen, weil sie die Mieten nicht mehr stemmen können. Der Körper Venedigs ist über1000 Jahre alt, aber die Ressource, die zu seinem Erhalt gebraucht wird, Bürgerinnen und Bürger, versiegt. Wer regelmäßig nach Venedig kommt, sieht dieses Drama mit Entsetzen. Ist das noch die viel zitierte Disneylandifizierung oder muss man es langsam Zombiefizierung nennen? Internationale Medien fangen an, über das Kreuzfahrtschiffethema hinaus das Problem zu benennen, deutschsprachig z. B. die ZEIT am 13.7. "Das nächste Mal Pauschalurlaub". 

Quelle: Extra Communicazione
Eine Werbeinitiative venezianischer Firmen
Auch hier gilt bei aller Liebe: WER SOLL DAS LESEN BTTE?

Naja, ETWAS tut die Stadtverwaltung schon. Sie bemüht sich, die täglich ca. 100.000 Besucher*innen zu angemessenem Verhalten zu erziehen. Seit Jahren durch Werbekampagnen des gleichen Strickmusters, Modell "Venedig gehört auch dir, respektiere sie!". Wir kennen alle die Plakate und Aufkleber im Stadtbild, vor allem im ÖPNV - in den Vaporetti, an den Haltestellen. Leider nicht mit dem gewünschten Erfolg, obwohl die Verhaltensvorschläge einleuchtend sind und eigentlich zum schlichteren Standard höflichen urbanen Benehmens, egal wo, gehören. Ich glaube, dass regelmäßige Besucher*innen und Venedig-Appassionati durchaus über das nötige Problembewusstsein verfügen und Abfall-, ÖPNverkehrs- und Bekleidungsregeln befolgen, keine Tauben füttern, nicht picknicken und schon gar nicht in Kanälen schwimmen, die Stadt nicht beschädigen und nicht bei fliegenden Händlern kaufen. Wenig Erziehungsbedarf, meine ich. 

Aber die "Massen"! Die ohne Vorinformation, ohne weitergehendes Interesse und ahnungslos "einmal im Leben Venedig gesehen" haben wollen, um festzustellen, es sieht genau aus wie auf den Bildern, die jede*r kennt, nur leider vollgestopft, heiß-stickig-verregnet-neblig-windig, und anstrengend. Eine Erfahrung von ein paar Stunden, bestenfalls 1-2 Tagen, überwältigend auf manche Weise, aber zu kurz um die öffentlichen Erziehungsbemühungen wahrzunehmen. Die Bitte um Respekt - hier rein, da raus. Pünktlich zurück zum Bus oder Charterboot ist, was an Regeln zählt.

An die "Massen" ist (war) auch die social media Kampagne dieses Frühlings "#Welcome to Venice" mit immerhin 14 (!) Verhaltensregeln verschwendet. Denn wer sucht im Internet nach "14 Wege, Venedig zu lieben", wenn 6 Tage Europa Rom, Venedig, Wien, München und Paris bedeuten, zum Teil per Bus, mal schnell zwischen dem Flug von und nach China? Was WISSEN und wie DENKEN die Erfinder*innen solcher Werbetexte über ihre Zielgruppe? 

Seit letzter Woche gibt es eine weitere Medienkampagne, die aber neue Register zieht via Soziale Medien, Presse und sogar einer riesigen Projektion am Campanile von S. Marco während der Redentorefeier. "#EnjoyRespectVenezia" sabbelt nicht, sondern zeigt in schlichten Pictogrammen, was in Venedig nicht geduldet wird und nennt die Kosten der Nichtbeachtung. Man darf gespannt sein, ob der Versuch gemacht wird, die Verbote durchzusetzen, und falls ja, wie erfolgreich?
Im Frühling gab es eine Rekrutierungskampagne der venezianischen Polizei, das Personal ist aufgestockt... denn wenn auch diese Kampagne mit Begriffen wie Bewußtseinsbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahme (awareness and sensitivity!) verziert wird (bloß nicht die Tourismusindustrie erschrecken!), sie wird entweder exekutiert - oder wieder mal eingestampft.

Was mir gut gefällt an der Website sind die Hinweise im Menü, und besonders der Unterpunkt Stadtplan mit dem Verzeichnis der zugelassenen Beherbungsbetriebe. Damit haben wir als Besucher*innen eine weitere Möglichkeit, bescheidene aber wichtige Verantwortung zu übernehmen. Die Anwendung lädt ein bisschen langsam und ist (mal wieder) nur italienisch, aber mit ihrer Hilfe können Hotels und vor allem Angebote von Ferienwohnungen auf ihre Struktur und Legalität geprüft werden. Damit wird zwar der Wohnungsmarkt für Einheimische nicht verbessert (siehe oben), aber wir können z. B. vermeiden, eine nicht genehmigte Ferienwohnung zu mieten. 




Es wäre zu hoffen, dass an den Flughäfen in Venedig und Treviso, in der Stazione Marittima und im People Mover, im ACTV- und im Alilagunabereich das schlichte Plakat so groß wie möglich präsentiert wird.

Und dass die Comune Venezia künftig weitere Maßnahmen ergreift, die sich WIRKLICH auf die Lebensqualität der Venezianer*innen auswirken. Auf Kosten derer, die bisher von der Ausbeutung der Stadt profitieren. 
Naja. Ein Wunschtraum. 

Quelle: Tweet von Paola Mar, Comune Venezia
16.7.2017


Nachtrag 18.7.:
Auf meinem Twitterkonto finde ich einen Link zu einem Blogeintrag von Italy Heaven (mir bisher unbekannt) von gestern, 17.7.:
"Wie man in Venedig ein 'guter' Tourist ist (und die Stadt genießt, ohne die Einheimischen gegen sich aufzubringen"
Detailliert! Einfühlsam! Lesenswert!


Nachtrag 20.7.:
Der Artikel von Thomas Steinfeld in der SZ vom 18.7. "Italiens Touristenmagneten im Dilemma" steht jetzt online. Sehr lesenswert.

Nachtrag 25.7.:
Nachdem am 23.7. morgens um 6:15 Uhr drei 20jährige Belgier von der Ponte della Costitutione in Wasser sprangen und sich dabei filmen liessen, marschierte die Polizei an und nahm die Jungs fest. Tagesgespräch in der Stadt und allen ihren Medien. Daraufhin wurden heute die Preise der Respektsknöllchen erhöht und folgend veröffentlicht:




Und ganz detailliert nachzulesen auf der Webseite der Comune Venezia.


Nachtrag 2.8.:
29 neue Polizistinnen, heute neu eingestellt, sorgen ab 15.8. bis zum Saisonende für geniessenden Respekt bzw. respektierenden Genuss rund um den Markusplatz. 


Quelle: Città di Venezia

Nachtrag 4.8.:
Es wird weiter daran gearbeitet, die Massen besser fließen zu lassen (oder zu beeinflussen?). Neu auf der Internetseite der Stadt Venedig: Touristenreport. Täglicher Wasserstand der erwarteten Tourist*innenflut. Auf welcher Basis die Hinweise stehen, wird nicht mitgeteilt - werden Daten von Cruiseschiffen, Fliegern, Bussen, Reisegruppenhotelbuchungen etc. erhoben?
Es gibt wirklich Tage, an denen die Skala GRÜN zeigt (bisher), z. B. am 24.12. :-)



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6 Kommentare:

Christoph hat gesagt…

Wenn ich diesen Beitrag (und die verlinkten Artikel ) lese bekomme ich ein schlechtes Gewissen.
Darf ich ,der Venedig liebt und wertschätzt, die Stadt überhaupt noch besuchen ?
Bisher war ich immer der Meinung:
wenn ich in Venedig (in einem Hotel) wohne und (in einem Restaurant ) verpflege,
die Museen und Kirchen besuche und das Vaporetto benutze,
trage ich ein ganz klein wenig zum Erhalt der Stadt bei.?
Die Hinweise,sich in der Stadt als Besucher zu verhalten sind selbstverständlich.
Grüße
Christoph

ebbonn hat gesagt…

Hallo Christoph,

Dein schlechtes Gewissen ehrt Dich, sozusagen, und ich denke, es sind die Falschen, die mit einem schlechten Gewissen reagieren. Ich selbst kämpfe je länger je mehr mit dem Problem und schiebe die Entscheidung vor mir her, diesen Blog zu schließen und nicht mehr nach Venedig zu fahren. (Seufz.) Die Republik Venedig war groß und es gibt viel zu sehen und zu erforschen in historisch venezianischen Städten auf der Terraferma und im ehemaligen Stato da mar (in dem ich seit Jahrzehnten herumreise von einer venezianischen Festung zu nächsten).
Und manchmal ärgere ich mich über die (touristischen) Zustände so sehr, und besonders, wenn mich mal wieder ein*e Einheimische*r angepampt hat (und ich ja eigentlich meine, zu den 'guten' Tourist*innen zu gehören), dass ich denke, genug ist genug. Es gibt so viele 'venezianische' Optionen im Mittelmeer...

Aber dann denke ich wieder, es ist mit dem Problem ähnlich wie mit dem Spruch "Der Klügere gibt nach". Wer klug ist, berharrt nicht auf Konflikten, aber wenn alle Klugen nachgeben, herrscht die Dummheit. Und wer Venedig liebt, möchte die Stadt verschonen von dem, was dort zu erleben ist, aber wenn alle Venedig-Appassionati aus Solidarität wegbleiben, herrscht dort ungestört und pur der Ausverkauf. Und in weniger als 20 Jahren ist die Stadt in der Hand der durchreisenden Massen und derer, die daran verdienen. Das kann es auch nicht sein... falls es das nicht sowieso schon ist...

Herzliche Grüße!

cristoforo hat gesagt…

Es wäre für uns "Venedig-Appassionati" ein herber Verlust,
wenn Du den Venedig Blog aufgeben würdest.
Tu's nicht !!!
Wer würde uns dann noch über Gegebenheiten und Sehenswürdigkeiten Venedigs informieren ?
(zumal noch so kompetent)
VENEZIAUNICA bestimmt nicht.
Mit liebem Gruß
Christoph

ebbonn hat gesagt…

Besten Dank für die Aufmunterung!

info-netz-musik hat gesagt…

Nein, bitte gib den Blog nicht auf. Wir brauchen Deine wertvollen Hinweise und kritischen Kommentare. Wir Appassionati haben schon die beiden nächsten Aufenthalte gebucht, selbstverständlich in einer legalen Unterkunft. Wir benehmen uns anständig, auch ohne Piktogramme, wir benutzen keine Plastiktüten, wir werfen keinen Müll in die Gegend, nein, wir versuchen ihn sogar zu trennen (obwohl mir das dort zwecklos erscheint, wir machen keine Selfies, kaufen keine nachgemachten Designer-Taschen und grölen weder in Kirchen und Museen noch in der Öffentlichkeit herum.
Also, bitte bleib standhaft (und vielen Dank auch für zahlreise Hinweise offline)!

A presto, vielleicht mal wieder in Venezia?
Jutta

Angela hat gesagt…

Liebe Brigitte,

Dein Blog gehört für mich seit vielen Jahren zum regelmäßigen Venedig-Vergnügen, wenn ich nicht die Möglichkeit habe, so oft hinzufahren, wie ich es genre wollte.
Deshalb auch von mir: bitte mach so weiter! Alle schon genannten Argumente unterstütze ich voll und ganz und bin auch der Meinung, dass wir, die wirklich leidenschaftlichen Veneigfahrer, das zum Wohl der Stadt tun, auch wenn es vielleicht ein Tropfen auf den heißen Stein ist.
Und ganz persönlich habe ich schon so viel Wertvolles und Wichtiges aus Deinen Beiträgen gelernt, dass ich sehr, sehr ungern darauf verzichten möchte.

Natürlich blutet auch mir das Herz, wenn ich die immer größer werdenden Massen sehe, aber ich denke, nicht mehr hinzufahren wäre ganz sicher keine Lösung.
Im Gegenteil, wir sollten alle, die so denken wie wir, darin unterstützen, trotz allem das Besondere an Venedig nicht nur im Herzen zu tragen, sondern auch durch Reisen immer wieder am Leben zu erhalten.

Liebe Grüße

Angela