31. Juli 2017

Riva dei Sette Martiri - nicht nur Biennale

Pavillon Seychellen
Am kurzen Stück der venezianischen Uferpromenade, die den Namen Riva dei Sette Martiri* trägt, wird in diesem Jahr eine überraschende Menge Kunst präsentiert. Für Kunstinteressierte mit wenig Zeit sozusagen ein kostenloses, aber vielfältiges Kurzangebot zwischen den Haltestellen Arsenale und Biennale. 2 Nationenausstellungen (Seychellen und Tunesien) und eine Handvoll Nicht-Biennale-Events.

Tunesien hat seinen ersten Biennaleauftritt seit 1958 und an der Ecke der Riva und Via Garibaldi eine seiner Niederlassungen des Projektes "The Absence of Paths". Besucher*innen, die hier an den historischen Kiosk treten, sind Teil der Performance, die immer wieder neu stattfindet: schriftlicher Antrag, mündliche Prüfung und Ausgabe eines universellen Reisedokuments für Migrant*innen, eines "Freesa". Der Ausweis kostet nichts, ebenso wie das Gespräch, das alleine schon die Sache wert ist. Die Projektidee ist, dass wir alle Migrant*innen sind, zumindest im historischen Sinn, und obwohl wir als Toursti*innen hoffen, weiterhin zu den Privilegierten zu gehören, die nicht auf die ungewollte Wanderschaft geworfen werden - könnten wir uns ja irren. 

Die Ausweisbroschüre für das persönliche Freesa enthält die Erklärung: "Mit der Unterzeichnung dieses universellen Reisedokuments stimmt der Empfänger ausdrücklich einer Philosophie der universellen Reisefreit ohne staatlich begründete Sanktionen zu. Er behält sich eine wesentliche Beteiligung, auch auf kreative Weise, an der Diskussion des Themas Migration vor..." und ein Gedicht von Maulana Rumi: "Den ganzen Tag denke ich darüber nach, und in der Nacht sage ich es. Woher komme ich, und was ist meine Aufgabe? Ich habe keine Ahnung..."  
Wer schon da war und noch nachträglich (oder überhaupt!) das Bedürfnis hat, sich zu äußern oder zum Projekt beizutragen, hat hier die Gelegenheit.


Migranten an der Riva dei Sette Martiri

Ein paar Häuser weiter, Hausnummer 1610/A, gibt es "Empire II": 115 Kurzfilme ebenso vieler Künstler*innen, gezeigt in einer Schleife, präsentiert in einem winzigen Vorführräumchen "ein pulsierendes Herz digitaler Kunst" (sagt die Broschüre), das vom ebenso winzigen Eingangzimmerchen, vollgestopft mit Büchern wie ein Flohmarktbücherverkauf "an extensive library engaging in film history and theory" (sagt die Broschüre), nur durch einen schwarzen Vorhang getrennt ist. 
Die Frau, von der man in der Filmbude empfangen wird, ssschhhht die ganze Zeit, weil jede noch so kleine Konversation die Filmvorführung stört. Ein paar Klappstühle. Hitze. Schlechter Geruch mangels Lüftung. Auf "...Überlegungen zu Klimawandel, Verschleißpolitik, Immigration, Narzißmus, Sex, Verzweiflung, Liebe, Hass, Identitätsverlust, Abhängigkeit, Gewalt, misslungene Ökonomie, digitale Vergewaltigung, Cyberkriminalität, Raumfahrt, Umweltverschmutzung, Tod und Konsumdenken..." kann ich mich unter diesen Bedingungen leider nicht so richtig einlassen. Liebe Güte. Ein schweigendes Lächeln für die Empfangsdame, die ihre Schultern hochzieht und zurück lächelt.
Verantwortlich für diese (nicht Biennale-gebundene) Veranstaltung ist Negin Vaziri, ein Name, den man sich noch nicht merken muss, glaube ich. 


Tobi Möhring

Mehr Bewegungsfreiheit, Luft und Licht gibt es in der Palazzina Canonica, Haus Nummer 1364, wenn auch der Erdgeschossraum zur Riva in voller Breite einen Filmvorführraum enthält und die Fensterläden geschlossen sind. Das Haus ließ sich 1911 der Bildhauer Pietro Canonica bauen, ein Gründerzeitbau eben, aber die Aussicht vom Obergeschoss auf das Becken und S. Giorgio Maggiore ist phantastisch. Auch der Blick auf die Riva, die zu Beginn der 1930er Jahre als 'Riva dell'Impero' verbreitert wurde und Militär- und faschistischen Parteiaufmärschen diente. Während der deutschen Besatzung ab 1943 war das Haus der Sitz des Wehrmachtskommandos (über den Begriff bin ich unsicher, da mir das in einem italienisch geführten Gespräch erzählt wurde - jedenfalls die kommandierenden Nazis). Später hatten wissenschaftliche Einrichtungen hier ihren Sitz, zuletzt die Bibliothek des Instituts für Meeresforschung CNR ISMAR, das jetzt seinen Sitz in der Tesa 104 des Arsenale hat. Die Palazzina Canonica war seit 1970 nicht mehr öffentlich zugänglich, seit 4 Jahren stand sie leer. 


 "Where do we go now?"

ISMAR, der Nationale Forschungsrat, die Fondazione Querini Stampalia und Fortuny sind am Kunstprojekt "Leviathan" (7.5.-24.9.) von Shezad Dawood beteiligt, das hier seinen Start hat und während einer dreijährigen internationalen Tour bis 2020 weiterentwickelt und vollendet wird. Es besteht derzeit aus 2 Filmen, die im Haus Canonica (Episode 1: Ben, 13,5 Min.) und in einem Nebengebäude (Episode 2: Yasmine, 23 Min.) gezeigt werden, ab 1. September folgt in einem weiteren Gebäude im Garten der dritte Filmteil (Episode 3: Arturo) von insgesamt 10 Episoden, die bis 2020 hergestellt werden. 
Bis 25.8. wird jeweils Freitags um 18:30 Uhr zu (kostenlosen) Filmvorführungen eingeladen (siehe Link). 
Ds Filmprojekt wird im Haus Canonica ergänzt durch zwei Skulpturen ("Leviathan" und "Where do we go now?") und eine Installation in der ehemaligen Bibliothek unter Verwendung von Fortuny-Stoffen ("Labanof Cycle").

Haus ist interessant, Kunstinstallationen und Filme sehenswert, der Besuch ist zu empfehlen, genügend Zeit sollte eingeplant werden (alleine die Filmepisoden 1+2 dauern über 30 Minuten).


Lih-Jen Shih, The Reappearing of King Kong Rhino

Nunmehr kommt die Abteilung Menschen (lebensecht!), Tiere (groß und wild!), Sensationen (Badeanzüge trotz EnjoyRespectVenezia!) an der Riva dei Sette Martiri. Der Reihe nach. 

Alles findet statt in den beiden Gärten links und rechts der Marinaressa, dem Gebäude aus dem 16. JH mit den beiden hohen Torbögen, mit dem die Serenissima Repubblica besonders verdienten, vor allem seekriegsverdienten, Seeleuten kostenlose Alterswohnsitze zur Verfügung stellte. 
Links liegt der sogenannte Giardino della Marinaressa, der 2010 wieder angelegt und der Bevölkerung als Park übergeben, zur Biennale 2015 für die Ausstellung von Ursula von Rydingsvard wieder schön geputzt und erneuert wurde. 
Der Garten rechts gehört, wie man mir sagte, zum Gästehaus der Salesianer (siehe auch Eintrag "Wohnen in venezianischen Klöstern") zu betreten durch ein Gartentor im Hintergrund aber bisher nicht zu begehen, weil ein wildes Gestrüpp alles bedeckte und in dem ich noch nie einen Menschen gesehen hatte. Jetzt steht hier stahlblitzend ein riesiges Rhinozeros von Li-Jen Shih, ein paar der sehr witzigen Schweißarbeiten von Tobi Möhring, und, neben ein paar eher kunsthandwerklichen Schildkröten, dessen Schöpfer*in ich mir leider nicht gemerkt habe, die umwerfenden 16 Riesenschildkröten der Nationalausstellung der Seychellen. 
Unter dem Titel "Slowly Quietly" haben 16 Künstler*innen das von George Camille und Allen Camille geschaffene Schildkrötenbasismodell gestaltet - auf verschiedenste Weisen bemalt, ergänzt, und eher bescheiden im Hintergrund des Gartens aufgebaut. 
Hier sind alle Individuen, aber ohne den schönen Rahmen von Pinien und Sträuchern und Lagune. Sehr unterhaltsam. Und über den üblichen Zeitraum von 18 Uhr hinaus offen für Besuche - gemäß den Öffnungszeiten venezianischer Parks im Sommer bis 21 Uhr.


Carole Feuerman
Eine der Skulpturen ist bekleidet...

Nächste Tür: Menschen+Sensationen, die Badeanzugfrauen (und ein Mann) von Carole Feuerman. (Siehe auch Eintrag "2 x hyperrealistische Skulpturen..."). Parallel zu Duane Hanson entwickelte sie seit den 70er Jahren realistische, aber im Gegensatz zu seinen Charakterfiguren ausschließlich "schöne" Skulpturen Badender, ihre Werke sind unverwechselbar wie die Hansons. Auf der Biennale 2007 stellte sie ihre "Grande Catalina" im Garten des Paradiso vor, es war Liebe auf den ersten Blick für mich. 
Der Giardino della Marinaressa strahlt mit den scheinbar tropfnassen Leuten im Badeanzug derart Sommerlust und -frische aus, dass er schier zu einem Badeanzugflashmob herausfordert, natürlich innerhalb des Gartenzauns! Um die Gebote des genießenden Respekts nicht zu übertreten und kein 200 €-Knöllchen zu provozieren. Die Ausstellung an der Riva läuft bis 5.12., die parallele Ausstellung im Garten der Venissa auf Mazzorbo nur bis Ende September.


Carole Feuerman

* In einem katholischen Kosmos wie Venedig vermutet man beim Begriff "Martiri" leicht christliche Märtyrer - die Sieben, die hier mit der Uferbenennung geehrt werden, sind aber Teil der italienisch-deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Die Umbenennung von Riva dell'Impero in Riva dei 7 Martiri, Ufer der 7 Blutzeugen, ist die Erinnerung an
Bruno De Gasperi, 20 Jahre
Girolamo Guasto, 25 Jahre
Alfredo Gelmi, 20 Jahre
Luciano Gelmi, 19 Jahre
Gino Conti, 46 Jahre
Alibrando Armellini, 24 Jahre
Afredo Vivian, 36 Jahre,
die bei Sonnenaufgang des 3.8.1944 zwischen zwei Uferlaternen vor der Palazzina Canonica von 24 Soldaten des deutschen Besatzungskommandos in Venedig erschossen wurden. Sie waren antifaschistische politische Gefangene im venezianischen Männergefängnis S. Maria Maggiore; ihre Ermordung die Repressalie wegen eines verschwundenen deutschen Soldaten (der, wie sich herausstellte, besoffen in der Lagune ertrunken war). 500 BürgerInnen von Castello wurden gezwungen der Hinrichtung zuzusehen, die Toten lagen tagelang in der Sommerhitze am Ufer, von deutschen Soldaten bewacht, bis ihr Begräbnis erlaubt wurde.

Es wird Ihrer jährlich treu am 3. 8. gedacht, siehe unten das Einladungsplakat zum 72. Todestag 2016, das ich auf der Via Garibaldi fotografiert habe. Dass im Anschluss an den gemeinsamem Trauermarsch zur Riva, Gedenken und offziellen Ansprachen von 20-23 Uhr an der Riva Tango getanzt wird, ist eine schöne Geste in Erinnerung des trionfo della ingiusta morte...




Ergänzung 2.8.:
Tweet zum Gedenken am 3.8.2017  pic.twitter.com/N2tmoe2xGe

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