27. Juli 2019

Ein vorhersehbarer FLOP


Festa della Sensa 2019

Das venezianisches Eintrittsgeld hat sich bis auf irgendwann erledigt. Die riesige aufgeregte Medienwelle, die Anfang des Jahres nach Ankündigung der Eintrittsgebühr ab Mai 2019 um den Planeten rollte, stellt sich als überflüssig heraus.

Siehe unten reinkopiert (ohne Fotos) den Eintrag "Eintrittsgeld für mordi e fuggi" vom 6.1.2019.

Denn in der Ratssitzung am 24.7. informierte der Haushaltsreferent Michele Zuin den Stadtrat formell, dass der geplante und mehrfach verschobene Start der Eintrittseinnahmen (vom Mai 2019 auf September, dann vom September auf Beginn 2020) nach seinem Verständnis "eine pure Utopie" sei. Die unabgesprochene Planung von Bürgermeister und Rat, die Eintrittgsgebühren durch die Träger des Reiseverkehrs - Bahnen, Busse, Reisebüros, Kreuzfahrtschiffe etc. - abkassieren und an das Rathaus abführen zu lassen, liesse sich nicht verwirklichen. 

Siehe "La Nuova" vom 25.7.19: "L'imposta di sbarco è un flop: tutto da rifare"

Zuin beklagte den Planungspfusch auf höchster Ebene und den daraus resultierenden Schlamassel. Die Methode, Eintrittsgelderfür eine kleine Insel wie Capri von einer einzigen Bootsfähre einsammeln zu lassen, liesse sich nicht auf die komplexe Situation des venezianischen Tagestourismus übertragen. Eine Befragung unter Beförderungsunternehmen (Bericht des städtischen Beraters Emanuele Rosteghin) hatte ergeben, dass die sich das Abkassieren ihrer Gäste nicht vorschreiben lassen, bzw. die bisherigen bei der Regionalverwaltung eingegangenen Beschwerden und Widersprüche machen dringend den Rückmarsch erforderlich.  

Die Sache müsse komplett neu konzipiert und initiiert werden, ohne Inanspruchnahme der Beförderungsunternehmen. Die aktuelle Idee dazu ist, die Eintrittsgebühr ausschließlich im Voraus über VENEZIA UNICA buchen zu lassen. Auf diesem Weg sei allerdings massenweise Schummelei nicht zu verhindern, zu aufwändig wäre die Kontrolle der "Eintrittskarten", die ohnehin nur als Stichproben geleistet werden könne.
Das Problem der Freistellung von Eintrittsgeld für Bewohner*innen, in Venedig Studierenden oder Beschäftigten etc. ist bisher ohnehin nicht gelöst. 


Bisher hat die Stadt Venedig anscheinend darauf verzichtet, die Weltpresse auf den neuesten Stand zu bringen. Den Spott über ihre unausgereifte, aber umso großspurigere Ankündigung von Anfang Januar würden Bürgermeister und Stadt sich sicher gern ersparen. Aber Großspurigkeit und Realitätsferne teilen sie mit Inhabern weit höherer Ämter. Vielleicht klappt es ja mit Hilfe einiger Expert*innen und in ein paar Jahren mit dem venezianischen Eintrittsgeld. Um die Regelung und Eingrenzung des Hypertourismus geht es ja ohnehin nicht, siehe Eintrag vom 6.1.19 hier unten.



Eintrittsgeld für mordi e fuggi.  Eintrag vom 6.1.2019

Nach dem EU-politischen Theater um den italienischen Haushalt und nach jahrelangen 'diplomatischen Manövern' der Stadt Venedig hat wenige Tage nach dem Senat auch die Abgeordnetenkammer am (sage und schreibe!) am 28.12.2018 die 'Landungssteuer' - tassa di sbarco - als Teil des Haushalts 2019 verabschiedet. Damit darf die Stadt Venedig (wie auch die Inseln Capri, Giglio und Elba) von Tagestourist*innen ein Eintrittsgeld von 2.50 bis 10 € erheben.

In Venedig nennt man Tagestourist*innen "mordi e fuggi" - also "beiss rein und hau ab". Ein schönes und zutreffendes Bild für den Rein-Raus-Tourismus, wenn man wieder mal eine deutsche Familie auf Tagestour vom Campingplatz in Punta Sabbioni die Stullen auf Brückenstufen in Venedig auspacken sieht. Die Meldung der neuen Steuer wurde in internationalen Medien mit Einverständnis und Zweifeln kommentiert.


Um den Ticketpreis in Relation zu anderen venezianischen Preisen zu setzen, sind hier ein paar Beispiele:
20 € Dogenpalast voller Eintritt; Sonderausstellungen im Dogenapartment, z. B. Tintoretto kosten extra.
(Die folgenden Museen bieten unterschiedliche Reduktionen für sehr diverse Personengruppen an, erheben aber auch z. T. Zusatzgebühren für z. B. Onlinebuchungen)
10 € Ca' Rezzonico
10 € Palazzo Fortuny
15 € Accademia
12,50 € Ca' d'Oro15 € Guggenheim Collection15 € (jeweils) Palazzo Grassi + Punta Dogana
3 € CHORUS-Kirchen einzeln, Sammelticket für alle 12 €
8 € Scuola Grande di San Marco13 € Führung durch den Komplex der Fondazione Cini, ehemaliges Kloster S. Giorgio Maggiore (ohne Kirche)
11,50 € 1 Espresso + 1 kleines Glas Leitungswasser in einem der 4 Cafés am Markusplatz (Stand der Information ist vielleicht überholt: von 2017)
2,50 € 1 Espresso + 1 Croissant 400 m und eine Brücke jenseits des Markusplatzes


Die Entscheidung hat laut Lokalpresse 2 Zielsetzungen:
"...portare all'incremento del gettito dagli accessi alla città, il contributo di sbarco sarà versato a prescindere dal pernottamento in strutture ricettive e (...) conseguire un effetto selettivo e moderare l'accesso delle cosiddette grandi navi alla zona lagunare", also: "...zu erhöhten Einnahmen aus dem Zugang zur Stadt zu führen, da die Landegebühr unabhängig von der Unterbringung in Hotels gezahlt wird und (...), um einen selektiven Effekt zu erzielen und den Zugang der sogenannten großen Schiffe zum Lagunengebiet zu mäßigen".

Dass die meisten internationalen Medien daraus schließen, dass damit die BESUCHER*INNENZAHLEN "in Schach gehalten", kontrolliert bzw. sogar verringert werden sollen, könnten, siehe z. B.


ist allerdings erstaunlich. Denn das hat niemand gesagt. Falsch ist auch die Behauptung, dass "Venedig seit Jahren gegen die Besuchermassen kämpft" - es ist (leider nur) eine Minderheit der venezianischen Bevölkerung (z. B. die Bürgerinitiativen Grupo 25 Aprile oder No Grandi Navi), die das tun.
Venedig, also die Verwaltung der Stadt, der Bürgermeister, die Tourismusindustrie und die gesamte Hydra der tourismusabhängigen Wirtschaft kämpfen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln um die Erhöhung der Besucherzahlen, den weiteren Bau von Hotels auf dem Festland sowie exklusiven Luxusresorts auf Laguneninseln, die weitere Umwandlung alter Gebäude im Centro Storico zur auschließlichen Nutzung durch die Tourismusindustrie (Hotels und Show-"Museen"), sowie den weiteren Zugang großer 'Kreuzfahrt'schiffe in die Lagune.


Es geht um Geld. Profite. Dafür ist nicht nur das Luxussegment zuständig, sondern auch die Masse, die täglich über die Adria reinkommt, ein paar Stunden durch die Gassen wandert, Venedig-Souvenirs einkauft und zum Abendessen aufs Schiffs zurückkehrt. Und die Masse asiatischer Busrundreisetourist*innen, die eine Führung über den Markusplatz inklusive bekommt, danach im asiatischen Airportluxusverkauf des Fondaco dei Tedeschi sein Geld lässt und in einer eigens eingerichteten Restauranthalle auf dem Tronchetto, neben den Parkplätzen, speist (inklusive? Möglicherweise, weiss ich nicht).
Das sind, und natürlich weitere, die Zielgruppen der neuen Landungssteuer, und welches Tourismusunternehmen bis hin zum Anbieter von Fahrradreisen wird ernsthaft erwägen, Venedig von seiner Tour zu streichen? Wegen eines Eintrittspreises, der einer einzigen Kircheneintrittskarte vergleichbar ist, oder billiger als ein Espresso auf dem Markusplatz? Lächerlich.

Die Landungssteuer kommt allerdings viel zu spät, ist zu billig, und lässt halbherzig die Tourismusindustrie davon kommen. Trotzdem: sinnvoll ist sie allemal. Zu ihrer Verwendung gibt es von den Medien die zweite ahnungslose Falschmeldung, sie diene dem "Erhalt Venedigs". Laut Bürgermeister Brugnaro soll sie konkret als Beitrag zur Stadtreinigung verwendet werden, die bisher mit Steuermitteln bezahlt wird. Als Stadtverantwortlicher muss er es wissen, und als Inhaber der Zeitarbeitsfirma Umana, die auch die Grupo Veritas mit billigen Arbeitskräften versorgt, auch. Zu hoffen ist auf die Realisierung dieser Behauptung, und dass die Männer und Frauen, die den täglichen Abfall der Besucher*innen entsorgen, jeden Tag morgens vor 7 Uhr den Markusplatz fegen und nach den Feierlichkeiten der Neujahrsnacht die Riva noch vor 4 Uhr besenrein übergeben haben, künftig nicht mehr nur von den Steuern der Venezianer*innen bezahlt werden.


Die 3 Probleme, die nach dem Haushaltsbeschluss anstehen, sind
1. ab wann und wie viel?
2. wie wird die Kohle eingesammelt?
3. wie werden die Einheimischen und die Massen Pendler*innen von der Zahlung ausgenommen, außerdem die Menschen, deren Ziele das Krankenhaus, das Gericht o.ä. sind, und die Besucher*innen jenseits von touristisch motivierten Anlässen, z. B. Eltern von Studierenden, Familien von Strafgefangenen, religiöser Anlässe etc.?

1. wurde vom städtischen Wirtschaftsreferenten Michele Zuin im Neujahrsinterview beantwortet: alle Tarife müssen vor dem 28.2. entschieden sein, um noch 2019 in Kraft zu treten. Für das Top-Event des Carnevale ist es zu spät, aber für den Termin Ostern könnten die notwendigsten Formalitäten für die Landungssteuer erledigt sein. Könnten. Wir werden sehen.

2. scheint einfach zu sein: wird den Tourismusunternehmen aufs Auge gedrückt. Bus, Bahn, Schiff, Flugzeug. Von denen auf die Reisekosten addiert und an die Stadt Venedig weitergeleitet. Ob dazu im Vorfeld des Gesetzes Absprachen getroffen wurden, erfährt man nicht. Wie es mit Einzelreisenden im Detail funktionieren soll, auch nicht.
Für Zugreisende gibt es laut Zuin die Idee, die Zahlung der Steuer ausschließlich online anzubieten, gegen Beleg zur Vorlage bei Kontrollen und ggfs. beim Fahrkartenkauf am Schalter. 

3. scheint noch das größte Problem zu sein. Klar formuliert wird von den Verantwortlichen, dass Bewohner*innen Venedigs und der Region (und Weitere...) vom Eintrittsgeld ausgenommen sein müssen. Auch hier müssen die Regeln zur Umsetzung bis zum 28.2. festgelegt werden. Ein Arbeitstreffen der Betroffenen (Ministerien, Stadtverwaltung, Regionalverwaltung, Präfektur) ist für den 31.1. einberufen. Ob diese Aufgabe in so kurzer Zeit zu bewältigen ist, wird sich zeigen, sagt die venezianische Presse. Und zitiert die Stadtverwaltung:
"Le cose più semplici si faranno adesso, già in questo 2019, e le altre si studieranno poi" - Die einfachen Sachen werden gleich erledigt, noch 2019, die anderen werden danach näher betrachtet.
Na da verkneife ich mir doch jeden Spott und wünsche bestes Gelingen in Sinne der anderen Seite der Betroffenen - der hoffentlich nicht zahlungspflichtigen Bevölkerungsgruppen.


Den künftigen Tagesbesucher*innen, soweit sie auf diesem Blog landen, erlaube ich mir, einen Rat zu geben.
Es gibt Menschen in aller Welt, die, vielleicht zum ersten Mal noch bevor sie lesen konnten, die traumschönen Bilder der Stadt Venedig, ihrer Kanäle, Brücken, Lagune und Inseln gesehen haben. In Bildbänden, Boulevardblättern, im Fernsehen, Kino, in der Werbung der Tourismusindustrie. Und die deshalb Venedig gesehen haben wollen, nein, müssen, bevor die Stadt 'untergeht'. Und sei es nur ein Tag, einmal! Wer hätte dafür nicht grundsätzlich Verständnis.
Aber Venedig ist nicht sichtbar in einem Tag. Sozusagen. Man sieht nur das, was man von Bildern kennt. Auch 2 Tage reichen nicht. (Ach die Anfragen, was man in 2 Tagen Venedig - 1 vor und 1 nach der 'Kreuzfahrt' (!) - in Venedig "unternehmen" könnte!)
Ein Tag Venedig ist wie auf der Straße Angela Merkel sehen. Ein Blick mit der Erkenntnis "Angela Merkel sieht genauso aus wie im Fernsehen!" Aha. Und Venedig auch. Hat man was davon?
Bilder, die man seit Jahren kennt, werden in der Realität nicht real, sondern irreal. Fragt man Menschen am ersten Tag in Venedig, sind sie irritiert und fühlen sich "wie im Film". Es braucht Zeit, die Klischees loszulassen und eine eigene authentische Wahrnehmung Venedigs aufzubauen. Die sich dann aus vielen Mosaiksteinen der eigenen sinnlichen Erfahrungen und ihrer Verarbeitung zusammensetzt. Wer dafür die Zeit nicht hat, sollte sich das Geld sparen. Wer das Interesse daran nicht hat, sollte sich ein Ziel suchen, das seinen*ihren Interessen besser entspricht. Wer mit seinem Venedigbesuch angeben will, sollte sich das schenken - Venedig ist ein Krethi-und-Plethi-Trip geworden, ein Ballermann der Kulturstädte, mit Luxusabteilung.
Aber auch eine Art kultureller Heimat für die, die in vielen Jahren auf verschiedenste Weisen die Stadt erfahren und kennen gelernt haben, die Venedig bewundern und lieben und die deshalb immer wieder kommen.
Ich wünsche mir, dass die mordi-e-fuggi-Steuer ein Reinfall wird, weil ein Tagesbesuch in Venedig einfach zu wenig ist und sich das vielleicht endlich mal herumspricht. 

Bleibt weg! Kommt nicht nach Venedig! Keinesfalls für einen Moment, einen Tag mordi e fuggi. Vermutlich ein vergeblicher Wunsch. 


Das Thema Eintrittsgeld hat einige (bisher englischsprachige) Medienbeiträge ausgelöst, die z. T. auch kritische und nachdenkliche Töne zur Situation Venedigs liefern.
Nicht alle Meinungen teile ich, oder teile ich nicht nur, und nicht alle Informationen sind korrekt recherchiert oder widergegeben. Aber bei genügend Interesse am Thema sind sie lesenswert:



Ergänzung 20.1.
Keine offizielle Pressemitteilung, sondern nur ein Interview mit Bürgermeister Brugnaro anlässlich einer der vielen Anlässe, an denen er gerne edienfreundlich ist:
Die Landungssteuer wird ab Mai erhoben, zunächst wird die Entscheidung befristet auf 3 Jahre. Der dazu erforderliche Beschluss der Stadt erfolgt in den ersten Februartagen, danach die Bestätigung durch den Rat, und tritt nach 60 Tagen in Kraft. Theoretisch sind dadurch 40 Mio. € zu erwarten, obwohl noch keine Entscheidung über die Höhe der gestaffelten Beträge gefallen ist, seine eigene Vorstellung liegt zwischen 2 und 5 €. Von den 20 Mio. Besucher*innen 2018 waren 2/3 Tagestourist*innen, die von der Neuregelung betroffen sind.
Eine Studie zu rechtlichen Details ist in Arbeit, auch wegen der zu erwartenden Einsprüche. Einsprüche wohl auch datenschutzrechtlicher Art im Hinblick auf den neu eingerichteten, ab dem Frühjahr arbeitenden "Control room" auf dem Tronchetto, der zunächst mit Mitteln des Venedigabkommens finanziert wird und die Basis der künftigen Kontrolle und Leitung der Personenflüsse ist.
Absprachen mit den Verkehrsträgern wie Bahn, Schiffs- und Busunternehmen wurden im Vorfeld nicht getroffen und müssen noch erarbeitet werden. Ziel der Landungssteuer und Steuerungsmaßnahmen sei nicht, die Zahl der ankommenden Tourist*innen zu verringern, sondern die Spitzen mehrerer zusätzlicher Hundertausender Personen an speziellen Terminen wie Carnevale, Ostern, Redentore, Regata Storica und Brückenwochenenden zu kontrollieren. Dazu soll bis 2021 die obligatorische Voranmeldung für den Besuch der Stadt und der Inseln realisiert werden, mit deren Hilfe die Überfüllung (quasi wie z. B. in einem Sportstadion) verhindert werden soll. Eintrittsermäßigungen soll es dann für Anmeldungen an 'ruhigeren' Tagen geben. 

Ergänzung 4.7.2019
Man denkt "...hab ichs nicht gleich..." aber man sagt es höflicherweise nicht. Deshalb habe ich mir einen Hinweis verkniffen, als der Einführungstermin für das Eintrittgeld vom Mai 2019 auf den September verschoben wurde.
Aber jetzt melde ich doch, dass die Sache nicht vor 2020 in Gang kommt. Die Schwierigkeit besteht wohl darin, dass sich die Tourismusindustrie nicht so einfach in Haftung nehmen lässt für das Einsammeln des Eintrittsgeld, und schon gar ohne vorherige Absprachen, siehe letzter Absatz oben. Siehe auch Kurztext der Süddeutschen. Lassen wir uns an Neujahr überraschen... 

Festa della Sensa 2019


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