23. Dezember 2011

Eine seltsame traurige wahre Geschichte


Auf Matteo Lovat trifft man auf San Servolo, während der Führung durch das Museo del Manicomio, der ehemaligen 'Irrenanstalt', der Psychiatrie für Männer. Er wird vorgestellt als "der berühmteste Patient", der, der sich selbst gekreuzigt hat.

Der Besuch des Museums hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Die Methoden der Behandlung, die Vitrinen voller Gerätschaften mit
denen sie ausgeführt wurden, und die Gesichter der Kranken, stark vergrößerte Portraitfotos, denen man sich nicht entziehen kann - im Gedächtnis haftet der Name Matteo Lovat und wird gegoogelt.

Es findet sich ein kleines Buch, keine 40 Seiten, der Bericht des venezianisch
en Arztes Dr. Cesare Ruggieri an zwei Kollegen, den Deutschen Dr. J. D. F. Scherf und den Niederländer David van Gesscher, als Faksimile, ursprünglich geschrieben auf französisch, übersetzt von Julius Heinrich Gottlieb Schlegel und veröffentlicht in Rudolstadt 1807.
Calle della Vida, kleinste Gasse, die von der Vaporettostation Fondamente Nove nach Cannaregio hinein führt, in den Ortsteil Biri

Dr. Ruggieri war zufällig in der Nähe der Calle delle muneghe, als Matteo Lovat, 47 Jahre alt, sich dort im Frühsommer 1805 selbst kreuzigte und traf nach dessen Notversorgung durch einen Wundarzt (Fußbad, herzstärken-
des Mitte
l) bei ihm ein, fand ihn im Schock und kaum kommunikationsfähig und ließ ihn (mit Genehmigung der anwesenden Polizeidirektors von Cannaregio) von S. Alvise ins Hospital SS. Giovanni e Paolo rudern.
Dr. Ruggieri war der Leiter der kaiserlichen klinischen Schule, die Behandlung Matteo Lovats bestand aus Pflege der Wunden, Diät, Versorgung mit Medikamenten, Gesprächen. Neben der psychischen Disposition vermutete Dr. Ruggieri, dass Matteo Lovat an
Pellagra litt.

Calle della Vida, wo Matteo Lovat zur Untermiete lebte. Die Häusernummerierung hat sich seit 1802 geändert, die Identifizierung des Hauses (für mich) nicht möglich

Dr. Ruggieri berichtet durchaus sensibel die Vorgeschichte Matteo Lovats, der den Wunsch hatte Priester zu werden, Schuhmacher wurde und trotz (oder wegen?) Fleißes, Anpassung und Frömmigkeit in die Katastrophe steuerte: im Juli 1802 "nahm er an sich mittels eines scharfen Schuhmacherinstruments eine allgemeine gänzliche Amputation der Zeugungstheile vor und warf alle Theile, derer er sich eben beraubt hatte, zum Fenster hinaus auf die Straße".
Dr. Ruggieri reflektiert die Ursachen dieser Tat und bewundert, wie umsichtig Matteo Lovat die Wundversorgung vorbereitete, durchführte und so unerwartet schnell völlig heilte, während er gleichzeitig in seinem Dorf, Casale, Ortsgespräch war und blieb und letztlich zu Gespött der Dörfler wurde.

Ort des ersten Selbst-
kreuzigungs-
versuches, Calle delle croce (heute venezianisch 'de le tre crose')


Weshalb er im Novemver 1802 nach Venedig zog, eine Anstellung bei einem Schuster neben dem Ospedaletto (hinter SS. Giovanni e Paolo) fand und bei der Witwe Osgualda in Cannaregio in der Calle della vida 5775 (Quergasse an der Vaporettostation Fondamente Nove) wohnte. Im September 1803 wurde er von Nachbarn eine Gasse weiter, der Calle delle croce, beim ersten Kreuzigungsversuch mitten auf der Gasse gestoppt und wechselte daraufhin Wohnung (bei S. Alvise, Calle delle muneghe 2888) und Arbeitgeber (am Rio della sensa). Dort lebte und arbeitete er unauffällig und bereitete seine nächste Kreuzigung vor.


Zeichnung T. Mattani, Stich G. Rosaspina, dem Buch entnommen mit freundlicher Genehmigung des Verlags Belleville

Dr. Ruggieri beschreibt das komplizierte Vorgehen in allen Details; die Kreuzigung selbst, die Verhütung von Aufmerksamkeit damit keine Helfer eingreifen, und schließlich die Präsentation, indem der Gekreuzigte sich durch ruckartige Bewegungen und mit Hilfe eines Seils und seines eigenen Gewichtes aus seinem Fenster gleiten ließ und sich der Nachbarschaft zeigte.

Matteo Lovats Wunden heilten schnell im Hospital SS. Giovanni e Paolo, aber er blieb krank, schlafgestört, litt an Schmerzen und Bewusstseinsstörungen, und Dr. Ruggieri konnte in Gesprächen den Hintergrund der Selbstkreuzigung nicht klären. Er berichtet seinen Kollegen ausführlich über die Therapie Matteo Lovats und über seine Kenntnisse und Erfahrungen in der Behandlung ähnlicher Krankheiten, er scheint ein erfahrener Arzt und einfühlsamer Mensch gewesen zu sein.


Klosterkirche San Servolo

Matteo Lovat wurde per Entscheid der "Poli-
zeigeneral-
direktion" im August 1805 in das "Hospital für Wahn-
sinnige" nach San Servolo gebracht, nachdem er sein Ausgeh-
verbot zu brechen vers
uchte durch Nahrungsverweigerung und Verlassen des Hospitals im Hemd. Der Bericht Dr. Ruggieris wird ergänzt durch den Bericht des Ordensgeistlichen & Arztes auf San Servolo, R. P. Louis Portalupi.

Calle delle muneghe, zwischen Fondamenta della Sensa und Rio di S. Alvise, in der Matteo Lovat seine Selbstkreuzigung vollzog

Matteo Lovat starb am 8. April 1806 auf San Servolo. Die gut sieben Monate bis zu seinem Tod müssen ein Martyrium gewesen sein von Nahrungs- und Flüssigkeits-
verweigerung und Zwangsernährung (per Klistier), verschie-
denen schweren Erkrankungen der Atemwege, Schwellungen von Gesicht und Gliedmaßen, freiwilligen extremen Sonnenexpositionen bis zu Hautverbrennungen, die gewaltsam unterbunden wurden.

  Dr. Ruggieri zieht in seinem medizinischen Bericht den Schluss, dass man "Matteo Lovats Wahnsinn ganz von der Gattung Manie ableiten kann, wo der Kranke stets nur eine einzige fixe Idee, höchstens nur für sehr wenige Gegenstände Sinn hat und von Kühnheit in den Unternehmungen des Willens begleitet wird, welche Mich. Ettmüller mit Delirium melancholicum mit der Benennung 'Mania cum studio' bezeichnete".



'Selbstkreuzigung. Der Fall Matteo Lovat' kann nur noch im Verlag Belleville bei Michael Farin bestellt werden unter http://www.belleville-verlag.de/scripts/start.php


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2 Kommentare:

Maria Neuhold hat gesagt…

Ihre Blogs sind besser als jedes Buch von und über Venedig.Ich danke Ihnen von Herzen dafür und schicke Ihnen weihnachtliche Grüße aus Osttirol.

ebbonn hat gesagt…

Ein Leser schickt mir außerhalb der Blog-Kommentarfunktion per Mail einen Gruß und Kommentar, den ich weitergeben möchte. Es geht um die französische Ausgabe des Ruggieri-Berichts in der Bayrischen Staatsbibliothek.

"...Die Geschichte der Selbstkreuzigung hat mich sehr berührt. Die Bayrische Staatsbibliothek (BSB) hat den Bericht übrigens digitalisiert unbd ins Netz gestellt:
http://www.bsb-muenchen-digital.de/~web/web1004/bsb10049898/images/index.html?digID=bsb10049898&pimage=1&v=pdf&nav=0&l=de..."

Herzlichen Dank für diesen Hinweis.