Biennale & Venezia minore
Fondazione Gervasuti, Austellungsräume 1. Etage
Die Vorstellung venezianischer Architektur sind die Prachtbau-
ten überall in der Stadt aber vor allem entlang des Canal Grande. Mit großen Räumen, frei schwingenden Terrazzo-
böden, vergoldeten Kassettendecken oder Fresken, hohen Fenstern, Land- und Wassertoren. Man kann sie betreten beim Besuch der darin untergebrachten Museen, oder anlässlich von Konzerten, Karnevalsbällen oder Ausstellungen der Biennale.
Nicht im touristischen Venedigbild enthalten sind die Häuser, die unterhalb der Kategorie 'großartig' rangieren, aber für das Stadtbild wie für das Leben einer Stadt unverzichtbar sind, "Venezia minore" genannt. Wohnsiedlungen, Geschäftszeilen, Handwerksbetriebe, die auch immer stärker den Bedürfnissen der Tourismusindustrie angepasst werden als Eigentums-
wohnungen, B & B, Ferienwohnungen, kleine Hotels, und dem Stadtbild und der Bevölkerung verloren gehen.
Auch in der Venezia minore finden Biennale-Ausstellungen statt, und diese sehr speziellen Venedig-Eindrücke jenseits von Palästen und Vaporetto d'Arte sollte man nicht auslassen. Den wunderbaren Palazzo Grimani kann man inzwischen immer besuchen, die Häuschen der kleinen Leute nur zur Biennale.
zum Beispiel die Mogel-
packung, die als Ad-
resse Palazzo Malipiero nennt, wo immer mehrere Ausstellungen stattfinden, aber nicht etwa im Androne (Halle des Eingangs- oder Wassergeschosses), oder im Piano nobile, sondern im 'Gebäude-
komplex' drumherum. Zu betreten durch diverse Seiten- oder Hintertüren. Über Treppen, bei denen mir jedesmal der Zungenbrecher diekatzetrittdietreppekrumm einfällt, und ich mich freue wenn nur die Zunge bricht und sonst nichts. In diesen Anbauten befanden sich früher vielleicht Wirtschaft- oder Versorgungsräume, oder Zimmer von Hausangestellten.
Derselbe Säulenrest von der anderen Seite, Treppen-
aufgang zur Ausstellung Zentralasien
In diesem Jahr gibt es hier die Nationalausstellungen von Estland, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, und 'Zentralasien'. Jede der 4 Ausstellungen ist auf ihre Weise sehr sehenswert, die sommerlichen Temperaturen in den teils win-
zigen, niedrigen, oder sogar fensterlosen Räumen gehören dazu. (Als der Iran hier ausstellte, hatte man eine herrlich erfrischende Klimaanlage installiert, die wunderbaren Duft ausatmete. Orientalischer Luxus im venezianischen Kleine-Leute-Haus!)
Sehr tief sitzend im Eingangsraum der Montenegro-Ausstellung und am Treppenaufgang zur Zentralasien-Ausstellung kann man ein Mauerteil bzw. eine Säule sehen, die noch aus dem ursprünglichen Bau des 11. Jahrhunderts stammen könnte.
Whithey McVeigh, Hunting Song |
höfchen der Stiftung Gervasuti habe ich schon öfter hingewiesen. Sie beher-
bergen wieder besondere Ausstellun-
gen in ihren verfallenden zwei Etagen mit rohen Holzfuß-
böden, zerfetzten Tapeten und vernagelten Fensteröffnungen als Projektionsflächen für Videos und der unvergleichlich stimmungsvollen kleinen Bar im offenen Hinter-
hof unter rankenden Klettertrompeten. In diesem Jahr leider ohne Hängematte, dafür gibt es ein paar Tischlein mehr.
Unter dem Link der Stiftung finden sich unter 'Projects/current weiterführende Links zu den derzeitigen Ausstellungen.
Einbezogen sind zum ersten Mal auch die angrenzenden Räume des Ex-Wohnheimes für unverheiratete Frauen aus dem 16. Jahrhundert ( Whitney McVeigh, Hunting Song. Eine unglaubli-
che Kuriositätensammlung, die auch in den "Palazzo encyclo-
pedico" gepasst hätte.)
Sehr beeindruckend der erste Biennaleauftritt der Malediven mit einer ganzen Reihe internationaler UmweltkünstlerInnen. Mir gefielen besonders die Videos von Stefano Cagol und Ursula Biemann.
Einer der kleinen Handwerker-Innenhöfe der Stiftung Gervasuti
Diese Biennale zeigt insgesamt offen-
sichtlich, dass Öko-
themen endgültig in der Kunst angekommen sind und. Nach einem beeindruckenden An-
lauf weniger ökologisch orientierter Künstler-
Innen in den 80er Jahren, der ebenso beeindruckend zum Jahrtausendwechsel abbrach (was auch die Fördermittel für Kunst-
projekte in der Umweltbildung in meinem beruflichen Umfeld betraf), ist sie wieder da, die Umwelt in der Kunst, natürlich vor allem in Bedrohungsszenarien.
Auch die Elfenbeinküste stellt in der Venezia minore aus, auch in Castello, wenn auch nicht in derart pittoresker Umgebung. Immerhin im Parterre, Innenhof und Hinterhaus eines normal bewohnten Häuschens gegenüber von S. Martino. Von einem Ausstellungsraum zum nächsten wandert man unter den Wäscheleinen durch und kann, wenn man nicht diskret genug ist, die Unterhaltungen von Fenster zu Fenster mit anhören. Auch Cote d'Ivoire nimmt zum ersten Mal an der Biennale teil, als Nation und mit dem Künstler Frédéric Bruly Bouabré im Rahmen des Palazzo encyclopedico im Arsenale.
Franck Fanny, Abidjan la nuit 4
Die Fotos von Franck Fanny stehen den Fotos des Gewinners des Goldenen Löwen, Ango-
la (Foto-
graf Edson Chagas), in nichts nach. Und da sie in schlichtester Umgebung präsentiert werden, beeindrucken sie mich persönlich tiefer als die Präsentation Angolas im edlen Ambiente des Palazzo Cini. Wobei die Kombination Palazzo Cini + toskanische Kunst des 14.-15. Jahrhunderts + angolanische Kunst des 21. Jahrhunderts wohl ein wichtiges Motiv der Auszeichnung ist. Naja, Geschmäcker...
Gehört ein ehemaliges Handelshaus, vielleicht nur ein Waren-
lager, zur Venezia minore? Ich weiß nichts Näheres über den Fondaco Marcello, außer dass er seit vielen Jahren Ausstellungen dient und ein Traghetto vor der Tür hat, mit dem man sich über den Canal Grande übersetzen lassen kann.
Dort stellt in diesem Jahr Irland aus, mit einem Videoprojekt, das einem den Boden unter den Füssen wegziehen kann. Nicht für Kinder geeignet. Der Kriegshorror des Kongo, zerstörte Städte und Landschaften, Flüchtlingslager, Leichenhäuser, Kindersoldaten, auf mehreren Projektionswänden, überwältigender Tongestaltung, infrarot gefilmt in rosa-grauen Bildern, die den Schrecken verfremden aber nicht mildern. Ich habe mich schon einige Male nach einem Kunstvideo erleichtert gefreut, vor der Tür Venedig wiederzufinden. Nach diesem tröstet auch Venedig nicht.
Frédéric Bruly Bouabré |
In diesem Zusammenhang empfehle ich sehr die kleine und informative Broschüre "Venice. Venetian domestic architecture" von Egle Trincanato und Renzo Salvadori. 12,50 € in jeder venezianischen Buchhandlung, auch in italienisch und franzözisch (in der französischen Buchhandlung bei Zanipolo). Auf 69 Seiten werden auch Bauten der Venezia minore in den Sechsteln Dorsoduro und Castello vorgestellt.
(Bei Amazon wird eine deutsche Übersetzung zum Preis von 400 € angeboten, ein Kommentar dazu erübrigt sich wohl.)
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