19. August 2014

La Certosa - die Insel der Bauzäune

Klosterruine La Certosa
Im Juni machte ich wieder eine Runde über die Insel La Certosa, die ich nach dem Tornado am 6. Juni 2012 nicht mehr besucht hatte. Mit ausgesprochen gemischten Gefühlen.

In meinem ersten Eintrag über La Certosa vom September 2010 ging es ausschließlich um das damals neue Projekt "Urban Park 2015". Dieses Projekt scheint erledigt. Schöne Best-Practice-Idee, wahrscheinlich einige Projektmittel kassiert, Ergebnis ist und bleibt bisher das mit Photovoltaik betriebene Servicehaus für die Marina mit Sanitäranlagen, Wasch- und Trockenmaschinen etc.. Der hochfliegende Plan von energetisch autarker Insel, Wiederbelebung alter Techno-
logien, Wasserspeicherung, Abwasserbehandlung etc., siehe alter Eintrag, fand keine weitere Realisierung, mit meiner hoffnungsfrohen Einschätzung noch 2012 lag ich völlig daneben. 



Begehbare Kunstinstallation von OperaBosco,
Verflechtung von lebendem Rohr mit totem Holz 
Auch auf der "Parco della Certosa"-Website der Stadt Venedig und Vento di Venezia sieht man: über Juni 2011 gehen Berich-
te nicht hinaus. Wurden die Öko-Pläne ausgetauscht gegen eine pragmatischere (und gewinnsichernde) Nutzung? Das war ein ganzes Jahr vor den Verwüstungen durch den Tornado. 


Von 2011 gibt es einen Projektwerbefilm:

l

Die Schäden des 12.6.2012 waren öffentlich gut zu besich-
tigen im Vergleich des Updates von Googlemaps von 2013 und der älteren Vor-Tornado-Karte von Bingmaps. Man erkennt die Waldschäden und eindeutig den entwurzelten Baum im ehema-
ligen Klosterhof bei Google, bei Bing steht er noch in voller Pracht. Im April 2012 hatte ich noch ein Filmchen aufgenom-
men und mich dabei unter den tief hängenden Ästen dieses Baums durchgequetscht. Die Zerstörung 2 Monate später war unvorhersehbar, aber aus heutiger Sicht und im Ergebnis vielleicht gar nicht so unwillkommen. Damals war ich schon der Laienmeinung, dass die Ruinen kaum zu retten seien, aber die Naturgewalt kann man im Falle von Kritik am folgenden Total-
abriss ganz praktisch vorschieben. Eintrag vom 19.6.2012, mein Bericht über La Certosa im April 2012.


Das Video von 2013 unten zeigt die Schäden, vor allem den Verlust hoher alter Bäume deutlich. Zu sehen sind aber auch militärische Ruinen aus der Zeit der österreichischen Besatz-
ung, ein erster Schutthaufen und die armseligen nackten Reste der Klosterruine, die vor dem weiteren Abriss von der Umklammerung des Dickichts befreit wurde.




Im Juni 2014 also stand ich dann doch einigermaßen fassungs-
los vor Bauzäunen, die die gesamte nördliche Hälfte der Insel plus den Westen der südlichen Häfte möglichst blickdicht abschirmen sollen (was natürlich nicht gelingt). Bagger und Räumgeräte sind ohnehin zu groß und zu laut, um sie zu ver-
stecken. Die Gebäude im Osten der südlichen Hälfte haben keinen Schaden genommen bis auf den Wasserturm, der früher neben dem Hotel stand, jetzt nicht mehr. Die Mitte der Insel scheint wie rasiert, auch vom Wasser aus kann man die hohe Schutthalde und die gerodeten Flächen sehen, beide wachsen seit Monaten, habe ich mir sagen lassen.


Mirabellen
Ich stärke mich im Hotelgarten mit einem Cappuccino und einem Croissant (die in Venedig Brioche heißen und in der Bar des Certosa Hotels einzigartig zart sind, ein Wölkchen aus Blätterteig!) und starte dann die Inselrunde.

Die Marina ist weiter gewachsen. Es liegen hier mittlerweile nicht nur große Segelyachten, sondern auch sehr große Motoryachten, und der Laden scheint voll zu sein. Im hinteren Bereich der Liegeplätze gibt es neue Sanitärgebäude, eine Kindersegelschule und Fahrräder für die Fahrt zum Restaurant. Entlang des Kanals zur Insel Le Vignole sieht alles aus wie zuvor, keine Waldschäden, aber als ich rechts abbiege zur Düne im Zentrum der Nordhälfte, die früher von hohen Bäumen eingefasst war, ist der Wald buchstäblich leer gefegt. Statt dessen große Stapel von klein gemachtem Holz und überall wieder Nachgewachsenes. Es ist ein wunderbarer Morgen auf dieser kleinen Insel in nächster Nähe Venedigs, große und laute Vogelkonversation, interessante Vegetation im Kleinen, Proviant im Angebot in Form von etwas unreifen Reineclauden und einer Art Mirabellen (überreif und eigentlich zu früh), Sonne scheint warm, Eidechsen flitzen, die Baumaschinen sind hier nicht zu hören. Hier soll künftig ein kleines Stück Wald erhalten werden, aber man wird es wohl nicht mit dem früheren Dschungel der Certosa vergleichen können.


Werke von OperaBosco
Krokodile am Strand
Die Umwelt-Künstlergruppe OperaBosco hat hier Anfang Juni eine dauerhafte Ausstellung installiert "nasce e rinasce", deren Exponate natürlich im Lauf der Zeit verrotten werden, die aber jetzt noch frisch und ihre Arbeitstechniken gut erkennbar sind. Ich sitze eine Weile im Halbschatten am Strand zwischen den Krokodilen, nachdem ich herausfinde, dass auch hier, am Tor der Mauer, die Nord- und Südhälfte der Insel trennt, der Bau-
zaun zwar nicht wirklich blickdicht ist, aber unbefugtes Betre-
ten der Riesenbaustelle wirksam verhindert. Und damit auch die komplette Umrundung der Insel. Ich wandere also zurück durchs Gehölz zur anderen Seite des Bauzauns, suche Guck-
löcher und sehe dann aus einiger Entfernung die letzten Reste der Klosterruine, es kann sich nur noch um Tage handeln, bis hier alles endgültig platt ist. 


Ebenfalls aus dem Juni stammt ein neues Werbefilmchen, siehe unten, mit einer 3-D-Darstellung des Karthäuserklosters. Nach vollendetem Abriss der Anlage kann man sie nun im www bewundern. Die Information, dass "der zentrale Klosterhof" bereits in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Veranlassung von Prinz Carl von Preußen abgebaut und im Park von Schloss Glienicke wieder aufgebaut wurde, ist mir neu. Das werde ich mir beim nächsten Besuch in Berlin ansehen. 



Der Steinhaufen, der einmal die Klosterruine war, bleibt in diesem Film unkommentiert, ebenso wie die Geröllhalde der bereits abgerissenen Gebäude, die auf der Googlemaps-Einspielung zu sehen ist.

Die Bauzäune tragen Planen, auf denen die "Wiederbelebung" und künftige Nutzung der Insel erläutert werden. Von einem Bürgerbeteiligungsverfahren ist das weit entfernt, aber immer-
hin etwas Information. Erstaunlich finde ich, dass hier der Abbau von unterschiedlich kontaminierten Böden (Folge der militärischen Nutzung) angekündigt wird. Im ursprünglichen Plan von "Urban Park 2015" war keine Rede von kontaminierten Böden, trotz des hohen ökologischen Anspruchs. Das lädt zu Spekulationen ein, die ich mir lieber verkneife. 


Sagen wir bis auf Weiteres mal: das Leben geht weiter. Für den Sommer 2014 wurde ein 10tägiges Freiwilligencamp auf der Insel ausgeschrieben (ob es stattfand, weiß ich nicht), für Aufgaben in der Umweltsanierung und Umweltbildung. Es be-
darf sicher mehr als eines Camps auf der Wiese der kleinen Umweltbildungsstätte der Certosa, die bisher Ziel von Klas-
senausflügen ist.

Seit diesem Sommer kann man solar angetriebene Boote in der Marina mieten. Das würde mir gefallen, faul mit Sonnenenergie durch die Lagune gondeln. Es sind Schritte zur "Wiederbele-
bung" der Insel zu einer neuen, erweiterten touristischen Nutzung. Denn bei allen Beteuerungen, die neuen Strukturen der Certosa dienten auch der Lebensqualität der veneziani-
schen Bevölkerung, läuft die Sache letztendlich auf eine wei-
tere touristische Zielgruppe hinaus, die der auf dem Wasser mobilen. Und natürlich nicht mit kleinem Budget, wenn auch nicht ausdrücklich in der Luxuskategorie wie z. B. S. Clemente in der südlichen Lagune. 



Plane am Bauzaun
Aber die Venezianer haben La Certosa eigentlich schon abge-
schrieben. Ältere VenezianerInnen berichten nostalgisch von sonntäglichen Familienausflügen, auch als Freundesgruppen oder Paare, per Boot auf die verlassene Certosa. Mit Pick-
nicks, Strand- und "Dschungel"leben. Damit sei es schon lange vorbei, und mit den neuen Planungen erwartet niemand mehr einen bürgerfreundlichen Inselpark. Eher das Gegenteil davon.


Warten wir ab, was sich in den nächsten 10 Jahren entwick-
elt. Am 27. September tritt SKA-J (meine venezianische Lieblingsband!) im Rahmen der Feiern zum 30jährigen Bandju-
biläum auf der Certosa auf, Skardy vs. Furio. Das ist doch schon mal EIN freundlicher Blick in die nahe Zukunft. 





Keine Kommentare: