11. Oktober 2016

Die venezianischen Lazzarette - Saisonende 2016

"Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!"
Eingang ins Innere des Lazzaretto Vecchio

Ich wiederhole mich, aus gutem Grund. 

Denn der geführte Besuch der beiden venezianischen Inseln Lazzaretto Vecchio in der südlichen Lagune und Lazzaretto Nuovo in der nördlichen Lagune muss einfach immer wieder angepriesen werden. Wer sich für die Geschichte Venedigs interessiert, findet hier, was noch von den beiden zentralen Orten venezianischer Epidemienvorsorge und -fürsorge zeugt. 


Die Führungen an Samstagen und Sonntagen im Lazzaretto Nuovo enden mit dem Wochenende 29./30. Oktober. 
Die Führungen im Lazzaretto Vecchio am Sonntag, 16.10. mit einem Sonderprogramm. Es gibt einen kulinarischen Stand mit Cichetti (venezianischen Häppchen), einen Stand des venezianischen Verlags/der Buchhandlung  Mare di Carta und eine Ausstellung (und hoffentlich auch Verkauf) von Werken des venezianischen Malers Luigi Divari (der derzeit auch im Meeresmuseum in Stralsund ausstellt). Um 13:00 Uhr präsentiert der venezianische Chor AMURIAMUM Werke von Monteverdi, Dowland, Brahms und Salvadori. Im Ambiente des alten Pestlazzaretts sicher ein beeindruckendes musikalisches Erlebnis.  


Erster Saal hinter der Eingangstür des Lazzaretto Vecchio,
mit einem schönen erhaltenen Ziegelboden
Die erste Pestwelle erreichte den Hafen von Venedig mit Schiffen unterwegs vom Kaspischen Meer im Jahr 1348. Anzahl und Tempo der Ansteckungen machten schnelle Maßnahmen erforderlich, denn weder der Übertragungsweg noch Heilmöglichkeiten waren bekannt. Wie von Boccaccio im Decamerone beschrieben, gab es nur die Flucht als Option - für Privilegierte. In Venedig waren bis Ende 1350 mehr als 50 der patrizischen, also herrschenden, Familien ausgelöscht. Zwischen 1348 und 1351 verlor der europäische Kontinent 30 % seiner Bevölkerung. 

Venedig, einerseits eine offene Stadt mit internationaler Einwohnerschaft und ständig wechselnden Besuchern und Durchreisenden, andererseits durch Handelskontakte und Diplomatie über das östliche Mittelmeer und die Alpen weit hinaus gut vernetzt, liess Daten über die Wanderung der Epidemie erheben. Und verstand, dass Personen- und Warenverkehr zwischen den Handelshäfen über Gesundheitskontrollen reguliert werden mussten. Das erste Gesetz zur Kontrolle und Meldepflicht der Kapitäne (bei schweren Strafen für unwahre Angaben) einlaufender Schiffe wurde 1423 erlassen. 


Separate Krankenbereiche für die privilegierten Familien
Schon zuvor wurde die Einrichtung eines Hospitals für die BürgerInnen Venedigs in Epidemifällen beschlossen und war seit Januar 1423 in Funktion. Ausgewählt wurde dafür die Insel Santa Maria di Nazareth, seit 1249 Sitz eines Eremitenklosters gleichen Namens. Aus drei Gründen: wegen der natürlich gegebenen Isolation in der Lagune; wegen der Nähe zum Lido, was die Versorgung einer großen Struktur aber auch den Krankentransport einfacher machte; und wegen der günstigen Kosten durch die Dienstleistung des Ordens (das sollte sich in späteren Jahrhunderten ändern, aber das ist eine andere Geschichte). Die Bezeichnung 'Nazaretum' bürgerte sich ein, dann, vermutlich in Anlehnung an den Namen der Nachbarinsel S. Lazzaro, 'Lazzaretto'. Durch weitere Einrichtungen von Hospitälern in den venezianischen Kolonien fand der Begriff 'Lazzaretto' rund ums östlichen Mittelmeer Verbreitung und später weltweit.

In dieses Hospital, später 'Lazzaretto Vecchio' genannt, wurden nur manifest Erkrankte gebracht. Es ging hier nicht um Krankenpflege, sondern um die Begrenzung der Seuchenausbreitung. Für die einzelnen Kranken nur ums Sterben, die wenigsten genasen. Der ehrenamtliche venezianische Führer zitierte bei meinem Besuch im Oktober 2015 die Inschrift auf dem Tor zur Hölle in Dantes 'Göttlicher Kommödie':

„Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,
Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze,
Durch mich geht man zu dem verlornen Volke.
Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer,
Geschaffen haben mich die Allmacht Gottes,
Die höchste Weisheit und die erste Liebe
Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen,
Nur ewiges, und ich muss ewig dauern.
Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“



Graffitto im Lazzaretto Vecchio
Hoffnung war hier wirklich nicht angebracht, bei mehreren 100 Todesopfern pro Tag, besonders während der 2. großen Pestwelle 1630. Das Lazzarett wurde hauptsächlich durch Spenden und Nachlässe finanziert. Notare wurden 1431 durch Beschluss des Großen Rates unter Strafandrohung aufgefordert, ErblasserInnen zur Begünstigung des Lazzaretts zu veranlassen. Heißt, es war laufend unterfinanziert. 

Für die wenigen Genesenden oder die, die als Infizierte eingeliefert wurden, aber nicht erkrankten, wurde 1456 eine zweite Isolationsinsel in Betrieb genommen: Lazzaretto Nuovo. Auch sie diente in erster Linie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, aber auch als Übergangsphase zwischen nicht eingetretenem Tod und 'zweiten Leben', und der Überprüfung von Verdachtsfällen. Der Aufenthalt von Schiffmannschaften und Aufbewahrung von Waren, die nachweislich über Häfen eingereist waren, in denen Epidemien - Pest, aber später auch Cholera, Typhus' herrschten, wurde dann schnell die Hauptaufgabe des Lazzaretto Nuovo: die Quarantäne. Papiere mussten lückenlos sein, wurden streng überprüft und Falschangaben oder Fälschungen standen unter Strafe. 

In beiden Lazzaretti herrschte der Horror der morgendlichen 'Visiten' und Entscheidungen: nachts Verstorbene zum Bestatten (zum Teil in Massengräbern), manifest Erkrankte vom Lazzaretto Nuovo ins Lazzaretto Vecchio, Genesene vom Lazzaretto Vecchio ins Lazzaretto Nuovo, nicht Erkrankte im Lazzaretto Nuovo aus der Quarantäne zurück in die Freiheit. 


Prior/essa- und Verwaltungsbereich
Archivmaterial belegt, dass auf beiden Inseln, besonders aber im Lazzaretto Vecchio PatientInnen misshandelt, missbraucht und ausgebeutet wurden. 
Es gibt Prozessakten (1458) der Priorin Zentilina, die verdorbenes Essen ausgeben und InsassInnen am Hunger, nicht an der Erkrankung, sterben liess. 
1468 wurde der Prior und Arzt Polo da Genova gekündigt und 1470 angeklagt, verurteilt und enthauptet wegen Misshandlung von Patienten, wegen des Verkaufs der Kleidung verstorbener Patienten in der Stadt (entgegen der Pflicht, sie zu verbrennen) und wegen Kostenabrechnungen für bereits verstorbene Patienten. 
1482 wurde der Prior Paolo Blanco der Verantwortung schuldig gesprochen, dass viele Insassen des Lazzaretto, Erwachsene und Kinder, elend starben, sie ihres persönlichen Besitzes beraubt wurden, der verkauft wurde und die Krankheit weiterverbreitete, dass ihr Unterhalt von täglich 12 soldi nach ihrem Tod unterschlagen und damit die öffentliche Kasse geschädigt wurde. Polo Blanco wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt und zuvor der venezianischen Strafprozedur der persönlichen Entwürdigung unterzogen: gebunden an einen Pfahl auf einem Lastkahn stehend, gekleidet in die Schandfarbe gelb, den ganzen Canal Grande hinauf gefahren zu werden, während seine Schandtaten mit lauter Stimme für alle alle hörbar vorgetragen wurden.

Die Lazzaretti sind ein überaus spannender und vielfältiger Bereich venezianischer Gesundheits- aber auch Kriegsgeschichte. Denn nach der 2. großen Pestwelle von 1630 ließ der dicht geschlossene Sicherheitskordon der Lazzarette in der Lagune und in allen anderen venezianischen Häfen kaum noch epidemische Krankheiten an Land Fuss fassen. Ein Erfolg venezianischer Gesundheitspolitik, der in Europa und weltweit übernommen wurde. 
Aber die Kämpfe um Macht und Territorien im östlichen Mittelmeer, vor allem der 25jährige Krieg um Candia/Kreta, sorgten für ständigen Nachschub an verletzten Seeleuten, Soldaten, Söldnern. Das ist dann eine weitere Geschichte der venezianischen öffentlichen Gesundheitspflege.


Zwischen den Lazarettgebäuden
Die venezianische Historikerin Nelli-Elena Vanzan Marchini forscht und schreibt u. a. zum Thema öffentliche Gesundheit in Venedig. Auf ihrer Seite finden sich interessante Artikel, ihre Bücher findet man in venezianischen Buchhandlungen (eher weniger im www).  


Anmeldungen für die letzten Führungen des Jahres inter info@archeove.com.
Anfahrtswege werden auf den beiden Webseiten (oben) erkärt (aber auch in meinen älteren Blogeinträgen).
Für die Überfahrt nach Lazzaretto Vecchio wartet man am Ufer Corinto genau gegenüber der Insel und wird in Gruppen übergesetzt.

Die Führungen sind kostenlos, aber es wird eine Spende erwartet. Aus meiner Sicht sollte sie großzügig sein, denn gefördert werden mit dem Geld Projekte jenseits des kommerziell orientierten Tourismus. Sie tragen zum Erhalt des historischen Venedigs bei, das uns allen am Herzen liegt. Ob der enorm engagierte, geradezu leidenschaftliche Einsatz des Archeoclub Venezia, im Lazzaretto Vecchio ein Museum der Stadt Venedig einzurichten, jemals erfolgreich sein wird, sei dahin gestellt. Aber es ist richtig, das Vorhaben zu unterstützen. 





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1 Kommentar:

ebbonn hat gesagt…

Wolfgang Wagener hat am 24.10.16 per Mail kommentiert (und die Veröffentlichung erlaubt):

Ein großes Lob und meinen herzlichen Dank für Ihren wunderbaren und kenntnisreichen Venedig-Blog. Dank Ihres Hinweises konnten wir am 16.10. Lazzaretto Vecchio besuchen. Zwar sind wir nicht der Führung gefolgt (keiner von uns versteht Italienisch), konnten dafür aber über die Insel und durch die alten Hallen streifen. Dazu das kleine Chorkonzert in außergewöhnlicher Umgebung, der familiäre Imbiss um Anschluss – das war schon ein ganz besonderer Sonntag in Venedig.