3. Oktober 2016

Warten, bis der Ökologiemann klingelt?


Morgen wird in Venedig ein neues Abfallsammelsystem eingeführt, zunächst nur im Sestiere Dorsoduro. Man setzt, legt, stellt nicht mehr den Müll vor die Haustür auf die Gasse oder den Hof. Vorbei ist es auch mit der typischen morgendlichen Dekoration der Häuserwände: es werden keine Plastikmülltüten mehr an Nägel gehängt. Vielmehr klingelt der spazzino, der Müllmann (auch die Müllfrau ruft "spazzino!" ins Haus, wenn die Tür geöffnet wird), und man steht bereit und händigt den Haushaltsabfall persönlich aus. Uns TouristInnen als Hotelgäste betrifft es kaum, aber als temporäre BewohnerInnen der vielen 'Ferienwohnungen' müssen wir unsere Vormittagsplanung danach ausrichten. Also ist die Sache wichtig. 

So gehts laut Information der Stadtverwaltung, online seit dem 20.7.:
Montag bis Samstag zwischen 7:30 und 11:00 Uhr Klingelt oder klopft der operatore ecologico, der Ökologiearbeiter, an die Tür und nimmt den Abfall gemäß dem Wochenplan der Mülltrennung entgegen. Wer NICHT den Vormittag zuhause verbringt (aus meiner Sicht die Mehrzahl der Kinder und erwachsenen BürgerInnen, aber auch der Venedig-TouristInnen), kann seine Mülltüte zwischen 6:30 und 8:30 Uhr an der Anlegestelle des VERITAS-Sammelbootes abgeben. In Dorsoduro liegen die Boote am Rio di San Vio, bei San Basilio, an der Fondamenta dell'Arzere, am Ponte San Trovaso, an der Fondamenta Alberti. 

Auf der aktuellen Website von VERITAS gibt es einige Änderungen: die Wartezeit auf den operatore ecologico hat sich auf 12:00 Uhr verlängert; als Anlegestellen der Müllsammelboote sind genannt Rio della Salute, Rio di San Vio, Rio di San Sebastiano, Rio di Santa Marta, Rio di San Barnaba, Rio di Ca' Foscari. Aha. 
Und der Hinweis auf zu erwartende Knöllchen ab 167 €. (Wenn man beim Absetzen von Müll in flagranti erwischt wird oder wie?)
Die Umstellung soll von Handzetteln zur Information begleitet werden - man kann nur hoffen, dass diese Handzettel für die vielen Hunderte Ferienwohnungen in Dorsoduro auch in einige Fremdsprachen übersetzt vorliegen. Sowohl Stadt als auch Dienstleister informieren auf ihren Onlineveröffentlichungen ihre ausländischen Gäste ausdrücklich NICHT. Ich beklage das normalerweise nicht, bitte italienisch in Italien, aber wäre es in diesem Fall nicht sinnvoll, die 'Ferienwohnungs'-Gäste sprachlich mit einzubeziehen?

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Über die Personal- und weiteren Kosten dieses vermutlich zeitaufwändigen Klingelsystems muss ich mir nicht den Kopf zerbrechen, das ist Sache der Profis. Aber die Nutzerfreundlichkeit scheint mir bedenkenswert, wenn ich die Wahl habe zwischen einer Mülltütenwanderung am frühen Morgen zum VERITAS-Boot und zuhause Geduld zu üben bis Schlag Mittag, wenn ich Wichtigeres oder Besseres vorhabe. Ehrlich gesagt: eigentlich fasse ich es nicht. Aber andererseits: wenn ich Venezianerin wäre, würde mich dieses System sofort und extrem disziplinieren, nur noch minimale Mengen Müll zu produzieren. Vielleicht ist Umwelterziehung der Menschen ja das geheime eigentliche Ziel dieser Umstellung! (Und nicht die der Ratten und Möwen, die sich ab morgen neue Futterquellen suchen müssen.)

Es gab einen Testlauf für die neue Einsammelmethode im September 2015 im Bereich zwischen Accademia und Dogana. Der erbrachte immerhin einen Anstieg der Mülltrennung von vorher schlappen 25,81 % auf 40 %. Anscheinend fördert die persönliche Übergabe an die Müllautorität die Bereitschaft, die Regeln der Mülltrennung zu befolgen. Die Testhaushalte sollen sich schnell an die neuen Regelungen gewöhnt haben, vor allem die Zufriedenheit über die öffentliche Sauberkeit habe dazu beigetragen. Die Verwaltung von Stadt und Dienstleistungsbetrieb versprechen sich künftig auch Erkenntnisse über Verteilung/Zusammensetzung der Müllkontigente; längerfristig wird wohl auch die Frage der Kosten der Müllentsorgung bei 56.000 EinwohnerInnen (Stand Juli) gegenüber 22.000.000 BesucherInnen jährlich auf den Tisch kommen.

Aufschlussreich an der Testphase finde ich vor allem die Zahlen der NutzerInnen: 536 Private, 404 nicht Private, 365 'non-residenti', also Nichtansässige, also vermutlich 'Ferienwohnungen'. Das entspricht meinen Beobachtungen im Laufe der Jahre, denn Statistiken dazu fehlen bisher soweit ich weiss. 
Die steigende Zahl dieser Wohnungen, die nicht dem einheimischen Wohnungsmarkt zur Verfügung stehen, ist mit einer der Gründe für die sinkende Einwohnerzahl des centro storico und einer der großen Konfliktherde dieser Stadt. Einerseits wird seitens der Bürger die gewollte 'Disneylandisierung' und Entvölkerung beklagt und die Politik und die Wirtschaft für die Entwicklung und ihre Folgen in Haft genommen. Andererseits wird von den BürgerInnen selbst die Kleinwohnung, geerbt von der Oma, dankend als dauerhafter stabiler Lebensunterhalt umgehend mit Höchstgewinn als 'Ferienwohnung' vermietet und keineswegs zu einem normalen Mietpreis auf dem lokalen Wohnungsmarkt angeboten. ('Ferienwohnungs'ungeeignete Räume übrigens auch nicht, sie können als Massenschlafplätze für nicht italienische Arbeitskräfte verwendet werden.) Auf dieser persönlichen Ebene ist der venezianische Exodus auch ein Konflikt zwischen besitzenden und nicht besitzenden BürgerInnen. Zwischen Gier und Gemeinsinn. Aber das ist eine andere Geschichte, die die VenezianerInnen unter sich ausmachen müssen, aus der ich mich als Besucherin heraus halten sollte. 

Das neue Abfallsystem wird in den kommenden 16 Monaten in ganz Venedig (centro storico und Inseln) installiert, ab Januar 2017 in Santa Croce und San Polo, ab Mai 2017 in San Marco, ab Oktober 2017 in Cannaregio, ab Februar 2018 in Castello. Nachzulesen in der Präsentation 'Keine Mülltüten mehr in den Gassen Venedigs' im Anhang der städtischen Informationsseite (wie im Link oben). Die Präsentation enthält eine ganze Reihe interessanter Statistiken bis hin zum Plan der öffentlichen Abfallkörbe im Stadtgebiet (für den alleräußersten Notfall?) und überzeugende Fotos zur Sauberkeitssteigerung. 

Offen bleiben Fragen, wie: wenn der Müllmann bis Mittag nicht kommt, zahlt VERITAS ein Knöllchen an die umsonst wartenden Bürger? Na gut, nicht witzig, aber: was passiert beim neuen Sammelsystem in Grenzfällen wie z. B. Streik? Sammelt sich der Müll dann in den Häusern, nicht mehr auf den Gassen? 

Gehen wir mal davon aus, dass die Sache nach einer Gewöhnungsphase wunderbar klappt und lernen wir die Wörter 
immondizie und 
spazzatura (beide gleichwertig für 'Hausabfälle') und 
rifuiti, (Oberbegriff für 'Müll'). 


La Nuova 30.9.: Da martedi cambia tutto. (Ab Dienstag ändert sich alles.) Buona fortuna!




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