24. November 2019

Referendum. Scheiden tut weh? Macht froh?


Quelle: Gruppo 25 Aprile

In einer Woche, am 1. 12. 2019, findet das nunmehr 5. Referendum zur kommunalen Trennung von Venedig und Mestre statt. Das Thema ist hochkompliziert und für Außenstehende (mich) nicht wirklich überblickbar. Ein paar Sätze zur politisch und ökonomisch schwierigen Verbindung der beiden Städte stehen schon im Eintrag vom 4.9.19 "Bettenboom in Mestre - Luxuslogis in Venedig":
"Die Stadt Mestre wurde 1926 nach Venedig eingemeindet. Als quasi proletarische Vorstadt der petrochemischen Industrie am Ufer der Lagune, mit ca. halb so vielen Einwohner*innen als damals im 'Centro Storico', also in Venedig, lebten. Die Bevölkerungsstatistik vom Dezember 2018 zählt 260.520 Bürger*innen im gesamten Stadtgebiet (inkl. aller Eingemeindungen), davon  52.996 Bürger*innen in Venedig (ohne Inseln der Lagune) und 116.996 Bürger*innen in Mestre/Marghera. Dieser Bevölkerungszuwachs und -wandel ist mit ein Grund für die Kommunalwahlergebnisse (Lega und weitere rechte Konsorten!) und die sich rasant ändernde Rolle Venedigs, die immer mehr als "Museumsviertel" der "Metropolitanstadt Venedig" bestimmt wird: das der finanziellen Verwertung dienende Touristenzentrum am anderen Ende der Brücke. Dessen räumliche Kapazitäten ihre natürlichen Grenzen haben und deshalb einträglicher genutzt werden müssen (Luxussegment!). Aber darüber hinaus leicht erweitert werden können, im "Venedig" an der Landseite der Brücke, in Mestre. Verkehrstechnisch kein Problem mit den Trenitalia-Bahnen vom Bahnhof Mestre nach Venedig-Santa Lucia ohne Zwischenstopp und Bussen von ATCV und ATVO, und, so der Verkehr die Nutzung der Schiene erlaubt, mit der Tram."

Die bisherigen 4 Volksentscheide führten jedenfalls nicht zur Scheidung. 

Ergebnis 1979 unter der damals noch sozialistischen Verwaltung des Bürgermeisters Mario Rigo (ein engagierter Vertreter der Trennung, dessen Tod vor wenigen Tagen in Venedig sehr betrauert wird): 72,3 % für die Einheit, 27,6 % für die Trennung. 
Nächster Versuch 1989 während der Amtszeit des Bürgermeisters Antonio Casellati der grün-roten Verwaltung: 57,8 für die Einheit, 42,2, für die Trennung. 
Der 3. Anlauf 1994 mit der Stadtverwaltung des linken Bündnisses mit Bürgermeister Massimo Cacciari ergab 55,6 % fürs Zusammenbleiben, 44,4, % fürs Auseinandergehen.
Beim letzten Versuch 2002 unter Bürgermeister Paolo Costa des Mitte-links-Bündnisses wurde die erforderliche Wahlbeteiligung von 50 % nicht erreicht, damit war das Referendum ungültig.

(Es gab im Lauf der Jahre einige weitere Referenden, und zwar zur Autonomie Venetiens.  Hier geht es um eine nationalistische Bewegung, die mit der Autonomie Venedig-Mestre nicht verwechselt werden darf. Allerdings wurden die Trennungsversuche zwischen Venedig und Mestre mit Erfolg von den separatistischen Gruppen Venetiens instrumentalisiert.)

Beim nächsten Vorstoß am 1.12. also soll die Frage " Sind Sie für die Aufgliederung der Stadt Venedig in zwei eigenständige Städte Venedig und Mestre gemäß dem bürgerinitiativen Gesetzesprojekt  Nr. 8?" mit ja oder nein beantwortet werden. 
Die 256 Stimmbezirke (+ 14 Anstaltsbezirke) sind von 7 bis 23 Uhr geöffnet, die Auszählung erfolgt im Anschluss, das Ergebnis wird noch in der Nacht erwartet. Die Anzahl der wahlberechtigten Bürger*innen von Venedig+Inseln und Mestre  steht erst in der letzten Novemberwoche nach der Ausgabe der Wahlkarten fest.  
Hochgerechnet von den bisherigen 4 Venedig-Mestre-Referenden kostet der Spaß eine gute Million, das muss die Demokratie wert sein. Die Stadt kalkuliert 700.000 € für die Wahlvorbereitungen, 150.000 Kostenerstattungen von Wahlleiter*innen, Wahlsekretär*innen und Stimmenauszähler*innen, 150.000 € für die Sonderausgaben der Verwaltungsabteilungen inkl. Stimmzetteln/ Bürobedarf und über 6.000 € für "buon pasto". Gutes Essen gehört auch bei einem Referendum dazu, wir sind in Italien. 

Interessiert uns das? Ich finde schon! Deutschsprachige Medien wissen dazu wenig und sagen fast nichts, weder im Vorfeld und im Nachgang wahrscheinlich nur, wenn eine Sensation zu melden wäre, aber für Venedig-Appassionati sind ein paar Fakten erhellend, die ich venezianischen Medien und social media entnehme.

Z. B. auch die Folgekosten eines Wahlausgangs, der zur Scheidung führen würde: 2 Oberbürgermeister*innen kosten jährlich 132.000 € (Venedig als Regionalhauptstadt mtl. 6.400 €, Mestre nur mtl. 4.600 €). Der derzeitige Vizebürgermeister bekommt 5.200 € pro Monat, jährlich 62.500 €. 2 Vizebürgermeister schlügen für Venedig mit 57.600 € jährlich (4.800/Monat) und für Mestre mit 41.400 € 3.500 €), gesamt 99.000 € zu Buche (alles elegant von mir gerundet). Dazu kommen die Kosten für 2 Ratsvorsitzende von gesamt 79.200 €, bisher einer: 54.200 €.
Die Zahl und Kosten der Referent*innen würden sich erhöhen, ebenso die Zahl und Kosten der Ratsmitglieder. 

Eine konkrete Auflistung weiterer Kosten bzw. Einnahmen, z. B. von Steuern aller Art, Hafengebühren u. Ä. finde ich nicht im www. (Ein Bereich, in dem mir zugegebenermaßen der italienische Wortschatz fehlt, aber mithilfe eines Lexikons...) 
Lediglich die Verkehrsbetriebe ACTV veröffentlichen eine Einschätzung der Folgen einer Trennung der beiden Städte mit der abschließenden Bemerkung (Google-Übersetzung):  
"Auf der Grundlage der obigen Ausführungen, der aktuellen Vorschriften und der derzeit verfügbaren Informationen scheint es unmöglich, dass die Trennung der örtlichen Bevölkerung einen allgemeinen Nutzung in Bezug auf die Dienstleistungen oder niedrigere Sätze bringen könnte. In der Tat würde die hypothetische Gemeinde Mestre im Rahmen des Dienstleistungsvertrags ein strukturelles Defizit von 13 bis 14 Mio. im Jahr verzeichnen... die in jedem Fall zu zahlen sind, um den Bestimmungen des Gesetzes über Dienstleistungsverträge zu entsprechen."
Nun denn. Ich habe nicht den gesamten Text gelesen, da ich mir nicht zutraue, die Rechnerei sinnvoll nachvollziehen zu können.





Wer steht auf welcher Seite?

Die Antwort ist nicht durchgängig eindeutig, sondern zwischen den politischen Parteien und Akteur*innen gibt es auch Zickzacklinien für und gegen Trennung, und für Enthaltung, die ein wichtiger Aspekt bei der Sache ist.

Denn wer für die Enthaltung wirbt, wirbt nach der letzten Erfahrung eigentlich für die Einheit: ist das Referendum wegen mangelnder Wahlbeteiligung ungültig, bleibt alles beim Alten.
Prominenter Enhalter ist, aus nachvollziehbarem Grund, Bürgermeister von Lega Gnaden Luigi Brugnaro. Denn nach einer Scheidung hätte er weder in Venedig noch in Mestre einen Job. 
Zur Enthältung rät ebenfalls, mit erstaunlichen Argumenten, der Ex-Bürgermeister Massimo Cacciari, der Philosoph: "Eine lächerliche Sache, unzeitgemäß, schädlich. Man will die Zahl der Parlamentsmitglieder in Rom verringern, da frage ich die Befürworter: warum wollen sie die Zahl von Referenten und Ratsmitgliedern derart hochziehen?" 
Enthaltung empfehlen auch die Gewerkschaften. 

Gegen die Trennung, fürs Zusammenbleiben ist der Vizebürgermeister von Mestre, Gianfranco Bettin, Soziologe und aktiv in den Themen Umwelt und Anti-Mafia, für die er den Zusammenhalt der Städte wichtig findet - ein nachvollziehbares Argument.
Die Lega wählte Anfang Oktober eine neue Direktion, die zur Teilnahme am Referendum für die Einheit einlädt, aber nicht auffordert. Sie hat ohnehin eine starke Basis auf dem Festland, und sie will Venedig nicht aus ihrem sicheren Machtbereich Veneto entlassen, der Wiege der Lega Nord, aus der die heutige Lega für ganz Italien wurde.
Ebenfalls gegen die Trennung sind die Berlusconi-Partei Forza Italia und der Partito Democratico PD.


Für die Scheidung ist der kleine Teil der Lega, der bei den letzten Kommunalwahlen gegen die Berufung des parteilosen Luigi Brugnaro als Bürgermeister auftrat. Kopf der Gruppe ist Gian Angelo Bellati. Man will einen starken Lega-Mann an der Spitze der Metropolregion Venedig und nicht den parteilosen Selbstdarsteller Brugnaro.
Für die Trennung und zwei autonome Städte wirbt auch die Bewegung 5 Sterne (M5S), nationale Regierungspartei, und ein Zusammenschluss weiterer Gruppen wie CGIL VeneziaPiu Mestre piu Venezia und Mestre Mia.
Die Non-Proft-Organisation We are here in Venice informiert auch in englischer Sprache ausführlich und kompetent - pro Scheidung - auf Ihrer Website. Interessante Artikel sind z. B.: 
Vor allem aber die Bürgerinitiative "Gruppo 25 Aprile", Sprecher Marco Sitran (siehe Video oben) und Marco Gasparinetti kämpft für die Trennung. Auf der Website "25 Aprile" steht (in italienischer Sprache) eine ausführliche Einschätzung "Was sich ändern würde und was sich NICHT ändern würde".
(Die einzelnen Absätze kann man sich ggfs. von
Google übersetzen lassen, den 1. Absatz habe ich schon eingefügt...)

Gruppo 25 Aprile und die zweite wichtige  Bürgerinitiative NoGrandiNavi warben und werben mit gut besuchten Informationsveranstaltungen (z. B. heute um 11 Uhr im Ateneo Veneto  💥) für die Trennung und rufen für heute, 14 Uhr zu einer Demonstration gegen Grandi Navi, MOSE und Brugnaro auf. Das Motto ist "MOSE ist das Problem, nicht die Lösung". Nach den bisherigen  Hochwassern im November die Antwort auf die inkompetenten Behauptungen Brugnaros, sie seien Folge des Klimawandel - Rettung brächte die schnelle Fertigstellung der Hochwassersperren. Das ist ein griffiges Schlagwort. Und näher betrachtet ist es ein wesentlicher Teil des überaus kompexen Problems der Zukunft Venedigs und der Lagune. Aber was wäre die Lösung? Man wird es im Nachhinein wissen oder nie. Die Gletscher schmelzen, das Wasser steigt. MOSE hin, UNESCO Welterbe her. Arbeitet jemand an der Logistik für die Evakuation der mobilen Kunstschätze?

Gegen neue Regeln im Verfahren haben die Bürgerinitiativen Beschwerde eingereicht, weil seitens der Stadtverwaltung praktisch keine Werbung für das Referendum gemacht wird (und damit die Enthaltungen einseitig gefördert werden). Darüberhinaus habe Bürgermeister Brugnare mehrmals gesetzeswidrig zur Stimmenthaltung aufgerufen. Gleichzeitig wird der Aushang von Werbung für die Beteiligung - Aushänge, Fahnen etc. an Privathäusern und -wohnungen) mit Multe (Knollen sozusagen) bestraft und die Aushänge wenn nötig eigenhändig von der Polizei entfernt. 
Beschwerde wird auch geführt gegen die Regelung der Mindestwahlbeteiligung (50 % der Wahlberechtigten +1), die zur Ungültigkeit des letzten Referendumgs 2002 führte.


💥
Ergänzung 25.11.
Die Informations- und Diskussionsvorlage der Veranstaltung am 24.11. von Gruppo 25 Aprile im Ateneo Veneto wurde heute veröffentlicht. 
Das Ateneo Veneto stellt die Filmdokumentation der Veranstaltung am 24.11. auf YouTube. Podium: Gianpaolo Scarante, Presidente Ateneo Veneto
Interventi di: Maria Laura Faccini, portavoce associazione Mestre Mia Laura Fincato, già parlamentare e assessore Comune di Venezia Marco Gasparinetti, portavoce Gruppo 25 Aprile Nicola Pellicani, deputato Partito Democratico Mara Rumiz, già assessore Comune di Venezia Giorgio Suppiej, Presidente Venezia Serenissima (Beide Informationen beantworten einen Teil meiner Fragen, siehe unten, soweit ich sie verstehe - weniger sprachlich als mangels detaillierter Hintergrundkenntnisse als Nicht-Venezianierin.)




Dazu gab es in letzter Zeit einige lesenswerte Artikel:

Blätter für deutsche und internationale Politik Der Tod von Venedig. Tourismus bis zu Kollaps
FAZ Venedig ist nicht Opfer einer Naturkatasstrophe, sondern der Gier
Süddeutsche Zeitung Subito, Venezia!
Süddeutsche Zeitung Luigi Brugnaro
Zeit So schön ist der Hochmut
The Local Venice is dying: Residents to vote on wether to split city in half
Project Syndicate Saving Venice means restauring the citizenry as well as the art and buildings
Daily Beast Venice is Flooding Because of Corruption
APnews Flood-hit Venice's dwindling population faces mounting woes
The Spectator Venice needs Venexit
Guardian Venice goes to the polls in referendum on autonomy
Irish Times Venice voting on split from the sister city
Times Exploited Venice seeks salvation in vote to 'leave' mainland
Times Mayor Luigi Brugnaro accused of dirty tricks as Venice prepares for autonomy vote
ytali. Venezia-Mestre. Le ragioni del ni
ytali. Venezia. Referendum, le ragioni del mio sì
ytali. Venezia. Separare il Comune, scelta miope e anacronistica
ytali. Referendum. Una risposta di pancia ai problemi di Venezia
ytali. La separanzione ha senso solo se aprie la via a uno statuto speciale
La Nuova Applausi e fischi: il referendum "spacca" la platea al Teatro Goldoni
Universität Ca' Foscari Video zur Geschichte Venedig-Marghera

und 2 Tage vor der Abstimmung,  29.22., berichten schnell noch nur die TAZ: Eine Stadt - kein Disneyland und die SZ: Seenotrettung als deutschsprachige Zeitungen (soweit ich es überblicke) über das Thema. 


Die Probleme 
  • Korruption beim MOSE-Projekt, 
  • Abwanderung der Bevölkerung aufs Festland, 
  • mangelnde Bürgerorientierung und -beteiligungder Stadtverwaltung, 
  • halbherzige und groteske Versuche der Besucherregulierung (Drehkreuze! Eintrittgebühren!), 
  • Absicht, Mestre den ahnungslosen Besuchermassen als "Venedig" zu verkaufen und Venedig als lebendes Museum dem touristischen Luxussegment zuzuschlagen, 
  • unverminderte Menge und Größe der Kreuzfahrtschiffe wider alle Absichtserklärungen und Wissen um die Bedrohung von Stadt und Lagune
  • viele andere mehr
  • und zu allem auch noch ein untauglicher Bürgermeister ohne Augenmaß, Qualifikation und Sensibilität
scheinen es mir den Versuch wert sein zu lassen, die Zuordnung und Lenkung in der Kommune Venedig grundsätzlich anders zu organisieren. 
Was mich allerdings irritiert, sind viele Informationen zu den praktischen Konsequenzen, die mir fehlen. Die Gehälter von zwei Bürgermeistern anstelle eines einzelnen reicht als Kostenrechnung nicht aus. Wie genau trennt man zwei völlig verschiedene Städte? Wie funktioniert dann das regionale Konstrukt "Metropolregion"? Müsste man darüber nicht im VORAUS sprechen? Wie wirkt sich die Scheidung auf das Leben der Bewohner*innen in den nächsten 10 Jahren aus (um nur mal kurzfristig zu denken)? Was passiert mit großen Einheiten wie z. B. Flughafen und Hafen, wem "gehören" die, bzw. deren Steuern? Was passiert mit MOSE und dem Schutz der Lagune? Wie kann man den notwendigen Umbau mithilfe echter Bürger*innenbeteiligung aushandeln? Wie die Verantwortlichkeiten?

Nicht nur mich erinnert das an ein anderes Referendum, dessen Drama wir seit Jahren mit Grausen erleben. Schlecht informierte Bevölkerung erstmal abstimmen lassen und hinterher mit Mühe aushandeln, wie mit dem Ergebnis umzugehen ist, ohne vorher die Beteiligung der Bürger*innen am großen Wechsel zu sichern und bei gleichzeitiger Notwendigkeit, verantwortungslose Glücksritter am Aufsatteln zu hindern. 

Ich hoffe nächsten Sonntag auf ein eindeutiges Sì zur Scheidung und viele kluge Venezianerinnen und Venezianer, die danach die richtigen Entscheidungen zur rechten Zeit treffen. In bocca al lupo!


.

Keine Kommentare: