Ein Palladio...! Scuola dei Mercanti
Scuola dei Mercanti, Biennale 2011
Ein Zufallsfund.
Bei einer Google-Recherche stolperte ich über eine Magister-
arbeit, die auf einen Bau von Andrea Palladio hinweist, den ich bisher noch nirgends erwähnt fand, nicht in Literatur (auch nicht Palladio-L.), Internet, Reiseführern.
(Rachel D. Erwin, The Scuola Dei Mercanti: Social Networking and Marital Mobility in Sixteenth-Century Venice. Georgia State University 2010. http://digitalarchive.gsu.edu/art_design_theses/65)
Madonna della Misericordia, 15. Jahrhundert über dem Palladio-Portal des 16. Jahrhunderts
Die Hinterlassenschaften Palladios in Venedig sind ja quasi an einer Hand aufzuzählen: die Kirchen San Giorgio Maggiore und Il Reden-
tore, die Fassaden von San Francesco della Vigna, den Zitelle und San Pietro di Castello, sowie ein Rest des ehemaligen Carita-Klosters innerhalb des Accademia-Gebäudekomplexes. Wer mehr Palladio will, muss aufs Festland fahren. (Siehe auch frühere Einträge: Palladio)
Die Scuola dei Mercanti steht am Campo della Madonna dell'Orto und wird erstens von der beeindruckenden Kirchen-
fassade überstrahlt und deshalb vielleicht nicht würdigend genug wahrgenommen. Zweitens wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass das ein Palladio sein könnte, keine 'typischen' Strukturen, keine Andeutungen von Antike, sondern eher ein Beispiel für Zurückgenommenheit. Die Proportionen und Maße allerdings doch sehr palladio: ausgewogen und auf einander bezogen.
Versamm-
lungsraum im Erdgeschoss
8 Säulen,
hinten links Treppen-
aufgang zum Ober-
geschoss
Biennale 2009
Die Website der Pfarrgemeinde Madonna dell' Orto weist darauf hin, dass Palladio an der "Erneuerung der Scuola 1570 mitgearbeitet" habe, aber Rachel D. Erwin belegt darüber hinaus in ihrer Arbeit (S. 3, Anm. 3), dass Palladio für Planung und Bauüberwachung verantwortlich war.
Bis zum Jahr 1570 war die Scuola dei Mercanti, eine 'piccola scuola', auf ihrer heutigen Grundfläche ein einstöckiger Bau in dem die Bruderschaft der Mercanti gemeinsame Gebete und Treffen abhielt und ansonsten der Kirche der Orto nebenan sehr verbunden war.
Obergeschoss, Kassettendecke, Biennale 2011
Nachdem die Bruder-
schaften von San Rocco und San Teodoro von 'kleinen' zu 'großen' Bruderschaften aufgewertet wurden, strebten auch die Mercanti 1570 den sozialen Aufstieg an, und zwar durch die Vereinigung mit der Scuola Grande della Misericordia, ein paar hundert Meter östlich liegend. Für die diese Fusion zwar sozial nicht gleichwertig, aber finanziell die Rettung war, denn man hatte sich mit dem Neubau der Scuola Grande della Misericordia sehr übernommen. Das Geld war alle, die Baustelle ruhte. Die Bruderschaft der Misericordia war darüberhinaus in den Ruf der Protzerei geraten, sehr peinlich in Venedig.
Die Mercanti konnten erhebliche Mittel in die Fusion einbringen und bewiesen dies auch, indem sie den berühmten Palladio anheuerten um ihr bisheriges kleines Bruderschaftshaus in den Zustand einer scuola grande zu versetzen: acht neue Säulen im Versammlungsraum, darauf eine zusätzliche Etage für feierliche Versammlungen mit einer wunderbaren Kassettendecke, die Integration eines Albergo und eine schöne Treppe zwischen den beiden Stockwerken.
Ausserdem wurden für die Ausstattung der Innenräume mit Bilderzyklen Künstler gewählt, die einerseits dem Ruf des Architekten entsprachen, andererseits die Verbindung zur Kunst der Orto Kirche herstellten: die Tintorettos, Veronese (soweit erhalten, heute in der Accademia).
Obergeschoss, Kassettendecke und verstellter Treppenabgang
Biennale 2011
Alles von bester Qualität bei gleichzeiti-
gem Verzicht auf jeden Anschein von Protz, mit dem sich die Kolle-
gen der Misericordia bereits unmöglich gemacht hatten, keine sansovinischen Detail-
freudigkeiten wie an ihrem bis heute nicht vollendeten Gebäude, sondern zurückhalten-
de Bescheidenheit. Weshalb man der Scuola dei Mercanti den Palladio eben nicht ansieht, man muss es wissen.
Die Scuola wird bis heute für Veranstaltungen der Pfarrgemeinde genutzt (siehe Website oben und den Aushang am Gebäude), außerdem fanden 2009 und 2011 Biennale-Ausstellungen auf beiden Etagen statt. Mit ein bisschen Timing kann man das Gebäude also besichtigen.
Der begehrte Aufstieg der Mercanti zur Scuola grande passierte letztlich nicht die Bürokratie der Serenissima, man blieb 'klein'. Die Scuola grande della Misericordia hat trotzdem abgesahnt, dafür gibt es archivarische Belege. Nach 400 Jahren kann man darüber die Schulter zucken.
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