31. Dezember 2012

Monteverdis L'Orfeo in S. Maria Gloriosa dei Frari

Kein noch so perfekt vorbereiteter Venedigbesuch verläuft nach Plan. Gebäude, die in jedem Führer stehen, sind ohne Terminangaben wegen Restaurierung jahrelang geschlossen; andere sind nur zur Führungen am Wochenende geöffnet oder nur ein paar Mal im Jahr; manche Kirchen sind werktags immer offen oder nach dem Gutdünken der Verantwortlichen; manche Gebäude stehen dem Publikum nie zur Verfügung, dann aber doch aus Anlässen wie z. B. der Biennale. Venedig ist und bleibt eine Wundertüte, auch für BesucherInnen, die regel-
mäßig vorbeikommen.


Für kulturelle Veranstaltungen in Venedig gibt es Pläne, auf die man sich verlassen kann. Die der Museen, der Traditionsfeste, der Biennalen etc., und es gibt Veranstaltungen außerhalb der Pläne, die kurzfristig bekannt werden. Mit Terminlisten versu-
che ich, möglichst viele interessante Veranstaltungen einzu-
fangen, Sport, Flohmärkte, Musik, Kunst... aber nie wird es gelingen, alle Angebote aufzulisten. 


Besonders im Sommer gibt es viele (kosten-
lose) Gastveranstal-
tungen von Schulen, Hochschulen, Chören, die im Vorfeld ihres Venedigsbesuchs einen Auftritt organisieren, meist in einer Kirche, die sich ja für Konzerte besonders gut eignen. 2011 konnte ich z. B. ein Konzert einer Mädchenschule aus der Republik Südafrika  in San Francesco della Vigna hören, beeindruckt von der musikalischen Qualität wie von der rappelvollen Kirche. Für die Aufführenden ist ein Auftritt in einer venezianischen Kirche oder einem Palazzo sicher ein unvergesslicher Höhepunkt. Dafür wird wenig Werbung gemacht - ein paar Handzettel, ein paar einfache kopierte Kleinplakate an einer Hauswand oder an der Pinnwand einer Kirche. Man sollte unbedingt darauf achten, um solche Gelegenheiten nicht zu verpassen.


Im Juli dieses Jahres trat die Musikakademie der Universität Ljubljana in der Basilica dei Frari auf. Hier gibt es im Sommer immer wieder kurzfristig Gastkonzerte von Chören oder Orchestern, aber in diesem Fall wurde Claudio Monteverdis  erste Oper, L'Orfeo, gespielt! 
Die Aufführung wurde komplett aufgezeichnet und auf YouTube veröffentlicht, wo ich sie in den Weihnachtsferien-
tagen zum Glück und per Zufall fand.


Die Szene liegt vor der geschnitzten Holzwand, die das Chor-
gestühl zum Hauptraum abschließt und die ein wunderbares Bühnenbild liefert. Das Portal zum Chorgestühl ist auch die Stelle, von der Charon und Apollon die Szene betreten. Die Aufzeichnung ist nicht perfekt (offensichtlich keine spezielle separate Tonaufzeichnung), aber die hohe Qualität des gesamten Ensembles ist so überzeugend, dass man sich schnell daran gewöhnt und ungestört dem Musikerlebnis hingeben kann. Kostüme und die Beleuchtung und damit die Wirkung des Auführungsortes tragen zusätzlich zu einem wunderbaren Kunsterlebnis bei, buchstäblich bis zum letzten Takt.


Ich wünschte wirklich, ich hätte diese Aufführung in der Frari erleben dürfen, wenige Schritte entfernt vom Grab des hoch verehrten Claudio Monteverdi und wünsche Lesern und Leserinnen ein gesundes neues Jahr und glückliche Fügungen in Venedig oder anderen Orten.

Libretto von Alessandro Striggio





(Wer mag, kann den StudentInnen und LehrerInnen aus Ljubljana danken und applaudieren, indem er/sie unter YouTube auf  "mag ich" klickt.)

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25. Dezember 2012

Josef Brodsky und Venedig

Der russische Dichter Josef Brodsky wurde im Juni 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgert, während ich, junge Deutsche der ersten Nachkriegsgeneration, seine Stadt Leningrad besuchte. Ich erinnere mich an die ziemlich romantischen Weißen Nächte am Ufer der Newa, die physische und psychische Erschütterung beim Besuch der Piskarjowskoje Gedenkstätte, des Friedhofs der Opfer der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, und an die hinreißende Schönheit Leningrads, die Weite des Blicks in den Straßen und auf dem Wasser, das Licht, die Großzügigkeit der Maße, das Wohlgefühl in einer Umgebung des goldenen Schnitts. Leningrad war 18 Jahre lang für mich die schönste Stadt der Welt - bis ich in Venedig ankam.

Vielleicht war seine Heimatstadt für Josef Brodsky nicht die schönste Stadt der Welt, was normal wäre, aber die Verbindung steht sofort bei seiner winterlichen Ankunft in Venedig ein halbes Jahr später: "Es war eine windige Nacht, und noch ehe meine Netzhaut irgend etwas registrierte, befiel mich ein äußerstes Glücksgefühl: schlagartig drang ein Geruch in meine Nase, der für mich immer schon ein Synonym für Glück gewesen ist, der Geruch von gefrierendem Seetang. ... In gewissen Elementen erkennt man sich selbst wieder; zu der Zeit, als ich auf den Stufen des Bahnhofs diesen Geruch einsog, waren verborgene Dramen und Ungereimtheiten offengestanden meine Stärke."   

Es folgen auf weniger als 90 Seiten Impressionen, Assoziationen, Beschreibungen, Phantasien, Menschen des winterlichen Venedig in poetischer Sprache, teilweise schräger Zusammenstellung und nicht ohne Humor.
"Links, rechts, oben und unten tauschen ihren Platz, und du findest dich nur noch zurecht, wenn du ein Einheimischer bist oder einen Cicerone bei dir hast. Der Nebel ist dicht, sichtberaubend und unbeweglich. Letzteres jedoch ist von Vorteil, wenn du zu einer kurzen Besorgung hinausgehst, sagen wir, um eine Schachtel Zigaretten zu kaufen, denn du findest den Weg zurück, und zwar duch den Tunnel, den dein eigener Körper in den Nebel gegraben hat; der Tunnel bleibt wohl eine halbe Stunde lang erhalten."

Ein Text, auf den keinE VenedigliebhaberIn verzichten sollte und als Trost fern von Venedig auch gar nicht kann. 

Blick von der Fondamenta degli Incurabili über den Giudecca-Kanal

Originalsprache ist englisch (nicht russisch), die Übersetzung von Jörg Trobitius kann ich nicht beurteilen, da ich das Original nicht kenne. Der Titel "Ufer der Verlorenen" ist jedenfalls ganz und gar verunglückt. Der Originaltitel "Fondamenta degli Incurabili" hätte unübersetzt bleiben sollen, er ist einfach eine Ortsbezeichnung, quasi ein Straßenname, östlich der Haltestelle Zattere, das Ufer des ehemaligen Hospitals der Incurabili, die heutige Hochschule für Kunst der Universität Venedig. 

 
Die Fondamenta degli Incurabili war ein Ort, an dem sich Josef Brodsky während seiner Venedigbesuche besonders gerne aufhielt, eine Tafel erinnert dort an ihn ('...er liebte und besang diesen Ort'). Ich finde an dieser Stelle des breiten Giudecca-Kanals mit dem Blick auf die Palladio-Kirchen den weit schweifenden, geblendeten Blick über die Newa in Leningrad wieder, vielleicht war es für ihn ein heimatlicher Blick.

Während der Kunstbiennale 2011 gab es an dieser Uferstraße, den Zattere, in der Bibliothek der Universiät Ca' Foscari eine Hommage an Josef Brodsky. Es war eines der vielen 'collateral events' im Programm, vor der Tür zwar das übliche rote Biennale-Schild, aber die Bibliotheksangestellten hatten keine Ahnung. Erst nach einigem Weiterreichen landete ich bei einer Bibliothekarin, die mir den Weg zeigen konnte durch das ehemalige große Warenlager, hohe Räume vom Boden bis ins Dachgestühl, zu einem Lesesaal, der für einige Wochen Brodsky diente. 


Auf einer Leinwand lief ein Film mit Venedig-Luftaufnahmen, dazu rezitierte die bekannt monotone Stimme Brodskys Texte in russischer Sprache (die ich nicht spreche). Auf den Arbeitsplätzen unter Glas und Spotlights Drucke von Gedichten in italienischer Sprache, begleitet von abstrakten (Holz?)Schnitten. 


Ich war allein, die Ausstel-
lung im Halbdunkel, die Stimme Brodskys deklamierte immer weiter, ihre Tonhöhe steigerte sich merklich, um dann plätzlich wieder zu fal-
len. Ausatmen. Persönliche Atmosphäre trotz des großen Funktions-
raumes mit den dicken Haustechnikrohren entlang der Wände, vielleicht hätte dem Dichter das gut gefallen.
Ich verdanke ihm und dem/der KuratorIn eine schöne Kontemplation bevor ich wieder in die Vormittagssonne der Zattere trat. 


Josef Brodsky verbachte sein Leben nach Leningrad in New York, viele Winter in Venedig und er ist einer der 'Gäste' auf auf S. Michele, im 'protestantischen' Teil des Friedhofs, in dem auch Orthodoxe liegen, alles, was christlich, aber nicht rechtgläubig katholisch ist. Auf seinem Grab steht ein Hausbriefkasten aus Metall, und er hat Post (ich habe ihm nicht geschrieben, aber den Deckel einen Zentimeter weit geöffnet - das musste sein).  



Josef Brodsky in Venedig (Video)
Besprechung 'Ufer der Verlorenen' von von Birgitta Ashoff  Nov. 1991
Josef Brodsky 'In the Light of Venice' (Teil)



Nachtrag 28.12.2012
Lagunenlicht hat ein kurzes, charmantes Brodsky-Video per Mail geschickt. Zwei gut gelaunte ältere Herren am Rialto. Da im Kommentarbereich keine Verlinkung möglich ist, stelle ich den Link hier ein, bitte klicken:

http://youtu.be/ebFOh0Z-tH8




Nachtrag 07.01.2013
JW (c) trägt frühe Fotos vom Grab Josef Brodskys bei. Das Grabkreuz aus dem Jahr 1998 und der neue Grabstein aus dem Jahr 2000, noch ohne Briefkasten, aber mit einer kleinen Sammlung von Schreibutensilien. Eine sehr spezielle Grabgabe. Herzlichen Dank für die Fotos!














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22. Dezember 2012

2 Neuigkeiten vom Rialto

John Singer Sargent The Rialto

Die erste betrifft den Fondaco dei Tedeschi. Dazu gab es bereits 4 Einträge, die als Basis für die Neuigkeit wesentlich sind. 

3sat meldet vor 3 Wochen, dass sich der Denkmalschutz mit dem Besitzer Benetton und der Architektengruppe OMA auf eine stärker erhaltende Nutzung des Fondaco geeinigt hat. Rolltreppen im Innenhof sowie Dachterrasse zum Canal Grande stehen nicht mehr zur Debatte. Die Artikel in der SZ und im Gazzettino, auf die 3sat sich bezieht, habe ich nicht gefunden. Aber einen Text in La Nouva vom 25.9.2012.

Der Vertrag zum Umbau des Gebäudes wurde zum Jahresende 2011 geschlossen und schon weniger als ein halbes Jahr später war die Sache, auch dank des Widerstandes bürgerlicher und kirchlicher Guppen und des Deutschen Studienzentrums in Venedig, gestoppt. Dazu gibt es einen informativen Eintrag im Blog Arthistoricum. Nicht jede Nassforschheit wie der Plan von Rem Koolhaas setzt sich durch. (Es gibt, nebenbei, seit September das polarisierende Gerücht, Rem Koolhaas sei der designierte Direktor der Architekturbiennale 2014.)


Die zweite Neuigkeiten betrifft die Rialtobrücke selber. Die lang geplante Restaurierung findet statt, ein Sponsor hat sich gefunden, Renzo Rosso übernimmt 5 Millionen Restaurierungs-
kosten. 


Zitate aus der Pressemeldung des Presseamtes der Stadt Venedig vom 14.12.2012:
Renzo Rosso and OTB for the Rialto Bridge:
restoration sponsorship presented today in Venice

Five is his favorite number and it proved to be successful once again: Renzo Rosso's holding OTB won the sponsorship contract for the Rialto Bridge restoration with a contribution of 5million euro. The bid was made public yesterday and announced today with a press conference held at the Town Council in Venice, at the presence of the Vice Mayor, Mr Sandro Simionato, of the Deputy Mayor for Public Works, Alessandro Maggioni, and, of course, Renzo Rosso.
The sponsorship contract foresees that the City of Venice will entirely take care of the planning, the works' management and the restoration, whereas the sponsor will cover all costs. A Communication Plan signed by the City of Venice and OTB sets the terms for the use of locations and billboards by the sponsor: Renzo Rosso clarified that he will definitely foster creativity and use non-intrusive ads.
...
OTB is the holding which controls brands such as Diesel, Maison Martin Margiela, Viktor&Rolf, and Staff International; in 2011 it had a turnover of 1.375 million euro, with over 6.000 employees in the world.

Attached the press folder (sponsorship contract, plan, communication plan, Superintendency, feasibility study - in Italian only) and some pictures (picture 1, 2, 3)


Die Links im Anhang sind interessante Details wie Plan, Machbarkeitsstudie und Werbekonzept, denn Sponsoring ist nun mal Marketing. Die werbemäßige Nutzung des Projekts scheint dezenter gestaltet zu werden als andere Restaurierungen in den letzten Jahren (Seufzerbrücke! Palazzi entlang des Canal Grande!) Leider finde ich keinen Projektplan der den Zeitrahmen der Arbeiten erläutert, mögliche Termine von Teilsperrungen dieses venezischen Knotenpunkts. Aber man hört sicher mehr, wenn die Arbeiten starten.


16. Dezember 2012

Gesehen: Das Venedig Prinzip



Das Venedig Prinzip will die Schönheit Venedigs zeigen und die Brutalität, mit der die Stadt benutzt wird als Geldmaschine. In einem System und einem Prozess, der fassungslos macht. In dem für Geld alles verkauft wird: die über Jahrhunderte geheg-
ten reichen und armen Wohnstätten der VenezianerInnen, die Lebens-, Arbeits-, Verkehrsstrukturen der Stadt, die Integrität der Inseln und die Ökologie der Lagune, das touristische Erlebnis als Blitz-Premium-Shopping-Event für Tages- und KreuzschifftouristΙnnen, einfachste Klischees der Selbstdar-
stellung und hochpreisige Originale. 

Alle scheinen daran beteiligt zu sein, die ErbInnen, die die Eigentumswohnung der Großeltern unterm Dach als Ferien-
wohnung vermieten oder den Familienpalazzo verkaufen, ArbeitgeberInnen, die mit ausländischen Billigsarbeitskräften verdienen, die Stadt, die die Situation nicht unter Kontrolle hat, die Unternehmen, die in diesem System Geld machen, und zwar legal.


Der Film versorgt jedeN ZuschauerIn mit der erwarteten Schönheit, aber auch mit einem angemessenen Schock. Für die meisten sind das sicher die Bilder der 'grande navi', der riesigen Schiffe, die sich beängstigend mitten durch die Stadt schieben. Für mich war es z. B. der Immobilienmakler, direkt beteiligt am Ausverkauf der Stadt, der voll bitterer Selbsterkenntnis den Betrug von und an Verkäufern und Käufern einräumt und offensichtlich nicht mehr in den Spiegel gucken kann.

Und die Journalistin, die ihre schöne Wohnung an TouristInnen vermietet und in der ehemaligen Buchhandlung im Parterre lebt, das Bett zwischen Bücherregalen und -stapeln, damit sie ihr Häuschen bei S. Sebastiano behalten kann. Nie mehr kann ich ein Apartment in Venedig mieten, ohne mich zu fragen, wie die VermieterInnen leben!

Der Bootsspediteur, spezialisiert auf private Wohnungsumzüge, der ähnlich wie schon die ProtagonistInnen in "6 x Venedig", dem ersten Venedig-Dokumentarfilms dieses Jahres, den Niedergang miterlebt. Der melancholisch, aber nicht verzeifelt die Schultern zuckt und selbst aufs Festland umzieht, als seine Wohnung gekündigt wird. Er wird künftig pendeln, wie viele der Menschen mit einfachen Jobs in Venedig. Auf Torcello (ein gutes Dutzend Einwohner), habe ich erlebt, dass um 9 Uhr, eine Stunde vor den Touristen, sämtliches Museums-, Kiosk-, Gaststätten- und sogar Kirchenpersonal mit dem Vaporetto eintrifft, das ist in Venedig nicht anders, wenn auch auf Torcello besser zu überblicken.  

Was für ein Glück, dass der Film der männlichen Bitterkeit und Melancholie  eine wütende alte Frau gegenüber stellt, die Schriftstellerin Tudy Sammartini in ihrem Häuschen nahe der Stazione Marittima und an Brennpunkten in der Stadt. Sie nennt Ross und Reiter und ist, hoffe ich, ein Vorbild bürger-
lichen Widerstands, das andere mitzieht. Denn sie ist venezianische Prominente und international bekannt, zwei ihrer Bücher stehen in meinem Bücherschrank. Beides wunderbar und kompetent geschriebene Großbände mit hervorragenden Fotos, "Die Türme von Venedig" von 2002 und "Die geheimen Gärten Venedigs" von 1995. Ihr neuestes Buch von 2011 ist wieder ein Gartenbuch "Verde Venezia", bisher nicht in Deutschland erschienen. 







Am Tag nach dem "Venedig Prinzip" gab es im NDR eine Sendung "Sylt: Ausverkauf einer Insel".
Das Sylt Prinzip. Wörtlich die gleichen Beschreibungen: der Gelddtourismus führt zum Ausverkauf der Häuser und zum Villen-Bauboom, die Einwohner können die hohen Preise auf der Insel nicht mehr zahlen und müssen aufs Festland, pendeln täglich mit dem Zug zurück zu ihren Dienstleistungs-
job. Geschäfte für den täglichen Bedarf werden ersetzt durch Edelboutiquen und teure Markenläden. Schulen und Krankenhäuser werden geschlossen. Das Prinzip funktioniert überall auf der Welt auf gleiche Weise und setzt sich überall durch.


Man darf die Augen nicht davor verschließen sondern muss den nächsten Venedig- (oder Sylt-) Besuch weniger romantisch und informierter antreten. Wer will schon auf Venedig verzichten. Aber nicht alles und nicht um jeden Preis.


"Poetisch und illusionslos": hier gibt es weitere Berichte und Kritiken
ZEIT In einem Traum gibt es kein echtes Leben

Hamburger Abendblatt Keine Bewohner, nur Touristen 
HR/ARD Eine Stadt geht baden
WDR3 Der langsame Tod der Lagunenstadt
SWR Eine Stadt versinkt im Touristenmeer
Critic.de Das Venedig Prinzip
Filmdienst Das Venedig Prinzip
Kunst+Film Das Venedig Prinzip
Neues Deutschland Festland trifft Insel
Getidan Das Venedig Prinzip


Nachtrag 11.01.2013
Das Venedig Prinzip hat sich für das Nominierungsfahren des Deutschen Filmpreises qualifziert.

Aktuelle Spielpläne:

Berlin - seit 06.12. - fsk
Berlin – seit 06.12. – Hackesche Höfe
Berlin – seit 07.01. – Babylon Mitte
Berlin – seit 01.01.- ACUDkunsthaus
Bochum - 17.01. bis 23.01. – Endstation
Bonn -seit 07.01.- Rex
Bremen – seit 06.12. – Ostertor
Brühl – 22.02. und 23.02 – Zoom
Celle – seit 07.01 – 8 1/2
Dresden – seit 06.12. – Kino im Dach
Essen – seit 07.01. – filmstudio
Esslingen – 31.01 bis 06.02. – Koki
Frankfurt – seit 09.12. – Mal Seh’n
Freiburg – seit 06.12. – Friedrichsbau
Göttingen - ab 07.02. – Lumiere
Halle – 14.02. bis 20.02. – Puschkino
Hamburg – seit 03.12. – Abaton
Hamburg - am 31.01. – Lichtmess
Köln – seit 06.12. – Filmpalette
Köln – seit 06.12. – Odeon
Leipzig – 29.01 bis 06.02. – Prager Frühling
Leipzig – 28.02. bis 06.03. – Cineding
Mainz – 14.02 bis 20.02. – Cinemayence
München – seit 06.12. – Neues Arena
Münster – seit 06.12. – Cinema
Nürnberg – seit 06.12. – Meisengeige
Oldenburg – 14.02.-20.02. – Casablanca
Schorndorf - 19.01 bis 27.01. - Kino Kleine Fluchten
Schrobenhausen - seit 20.12. – Cinepark
Trostberg – ab 10.01. – Stadtkino
Stuttgart – seit 06.12. – Arthaus


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2. Dezember 2012

San Lorenzo

Iacopo de Barbari, 1500, Detail: Klosterkomplex von S. Lorenzo
San Lorenzo ist seit vielen Jahren kompromisslos geschlossen, was die Neugierde von VenedigfreundInnen besonders anheizt. Wie oft habe ich vorbeigeschaut, "nur für den Fall, dass..." und wieder nur den stillen Campo gefunden, belebt von alten Damen, die im jetzigen Altenheim 'Residenza S. Lorenzo' leben und in ihren Rollstühlen in die Sonne geschoben werden oder sich die Sitzbänke mit den Katzen vom Katzenheim auf den Stufen von S. Lorenzo teilen. Und nun wird die Kirche, man muss wirklich sagen wunderbarerweise, wieder zugänglich als Biennale-Ausstellungsort des Staates Mexico. Neun Jahre wird der Bau renoviert und kann jeden Sommer während Biennalezeiten besucht werden, Kunst jeweils von Juni bis November, Architektur von August bis November.

Der Auszug aus dem Stich von Iacopo de Barbari zeigt einen Klosterkomplex, der 1500 schon sehr alt war: erster Bau im 7. Jahrhundert, im 9. Jahrhundert Benediktinerinnenkloster, mit einem reichen Nachlass bedacht im Testament des Bischofs Orso 853, abgebrannt 1105, neu errichtet 1140 unter der Äbtissin Angela, Schwester des Dogen Domenico Michiel, danach mehrfach renoviert bis zu einem weiteren Neubau unter der Äbtissin Paola Priuli


Dieser Neubau von 1592 - 1602 erscheint natürlich nicht auf dem Plan von de Barbari, deshalb muss eine Bing-Karte weiterhelfen, siehe oben, mit dem Campo S. Lorenzo, mehreren Innenhöfen bzw. Kreuzgängen und rechts dem Kirchendach. Er wurde ausgeführt von Simone Sorella (Architekt u. a. auch des - heute schiefen - Glockenturms von S. Giorgio dei Greci, am gleichen Ufer, ein paar hundert Meter weiter südlich, und Vollender des Palladio-Baus S. Giorgio Maggiore, nach dessen Tod). Die Fassadenausstattung zum Campo wurde nie begonnen.

Andreas Götz schreibt mir dazu unter Bezug auf den Venedig-Führer des Touring-Club Italia, Stand 1984:

Im Norden des Campo befindet sich noch hinter einer Fassade von 1852 ein ehemaliger Kreuzgangarm, hinter dem sich noch drei Kreuzgänge befinden sollen, davon der größte spätgotisch. Ursprünglich soll der Campo laut TCI selbst ein Kreuzgang gewesen sein, durch einen Flügel zum Kanal hin abgeschlossen. Die Pflasterung von 1747 und der achteckige Pozzo würden davon zeugen. Ein ziemlich stattlicher Komplex also, Benediktinerinnen halt. Wenn der Campo aber Kreuzgang war, so war der Teil der Kirche zum Campo der Nonnenbereich (müßte man mal überprüfen), der Zugang für die Laien war dann vermutlich über die Fondamenta San Giorgio. Wäre dann auch eine Erklärung, warum die Benediktinerinnen es nicht so eilig hatten mit der Fassade.
Es gab eine Brücke von der Nordseite des Klosters über den Rio di San Giovanni Laterano, die unter einem Sottoportego hindurch auf den Campiello di S. Giustina detto delle Barbarie führte. Das kann man auf Stadtplänen anhand der beiden abgebrochenen Gassen (ohne Brücke dazwischen) erkennen. Ich habe aber auch gelesen (wo? wann? weiß nicht mehr), dass die Brücke abgebrochen wurde zum Schutz der Bewohnerinnen (oder: zur Verhinderung von Freizügigkeiten der Bewohnerinnen).



Das Gebäude ist einzigartig in Venedig durch seine zwei Schiffe die "sozusagen quer" (Alvise Zorzi) stehen: das vordere Schiff war der Raum für das Volk, vor dem doppelseitigen Hauptaltar, einem Meisterwerk von Girolamo Campagna (1615-18), und hinter dem Hauptaltar und schmiedeisernen Gitterwänden, das gleich große, reich gestaltete Schiff für die Nonnen, eingerichtet mit viel Gold, Chorgestühl, einem großen Paradiesgemälde von Girolamo Pilotti (1628). Im vorderen Schiff wurden rechts und links des Haupteingangs im Laufe der Jahre je 3 Seitenaltäre auf Initiative verschiedener Äbtissinen eingerichtet. Links der Reliquenaltar für S. Barbaro, mit einer Altartafel von von Jacopo Palma giov. "Der enthauptete S. Barbaro wird von Engeln in den Himmel getragen"); dann der Altar der Assunta für die Gräber des Bischofs Costantino Sozomeno und der Musiker Franceso Cavalli und Giuseppe Zarlino (+1590); der dritte Altar, gestiftet von der Familie Da Mosto, für S. Giovanni mit einem Tafelbild von Pietro Mera "Taufe Christi". Rechts des Haupteingangs ein Altar für S. Marco von der Familie De Grigis, mit einem Altarbild "Die Krönung der Jungfrau mit den Hl. Agostino und Lorenzo" von Flaminio Florian; dann ein Altar für S. Paolo, Bischof von Konstantinopel und Märtyrer, mit dem Tafelbild von Domenico Tintoretto "Martyrium S. Paolo"; der dritte ein Kreuzigungsaltar, gestiftet vom Patrizier Andrea Minotto 1618-21, Tafelbild von Jacopo Palma giov..

Bei der Schließung 1810 des Klosters wurde sein Gesamtwert auf 19.638,18 venetische Lire festgelegt (was immer das heißt, ich habe diese Zahl aus "Venezia scomparsa" von Alvise Zorzi, siehe Bücherliste Sachbücher). Allein das verarbeitete Gold wurde auf 2.516 Lire geschätzt, für Zorzi der Beleg für den enormen Reichtum des Klosters. 

S. Lorenzo und das benachbarte S. Zaccaria waren die beiden wichtigsten und reichsten Klöster für Oberschichtfrauen. Hier wurden Töchter und Witwen aus Patrizierfamilien in angemessenem Rahmen versorgt, die vor allem aus ökonomischen Gründen nicht verheiratet (oder wieder verheiratet) werden sollten/konnten. Sie sollten weiter Wohlstand, Status, Bildung ihres vorherigen Lebens genießen können, inklusive Bedienung (durch Laienschwestern), und materiellem Luxus wie Kleidung, Einrichtung ihrer privaten Räume im Kloster etc., aber kein Faktor in der Erbfolge ihrer reichen Familie sein. (Siehe das mehrfach von mir empfohlene Buch von Mary Laven, Bücherliste Sachbücher).

Massen von Putten in den Wanddekorationen
1810 wurden die Kunst-
schätze der Kir-
che/ des Klosters teilweise für Vene-
dig ge-
rettet durch Kauf (der Pfarrer Don Vincenzo Ballarin von S. Pietro in Volta, Pellestrina, kaufte z. B. am 7.8.1810 eine silberne Monstranz zum Preis von 508,017 venetischen Lire; am 10.7. ging eine der Orgeln für 140 lire an das Seminario Patriarcale neben der Salute, heute noch erhalten in San Cipriano auf Murano.) oder Aufteilung an verschiedene Kirchen im Stadtgebiet, oder an ganz andere Orte (Milano, Wien)
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Menschliche Überreste aus Altären und Gräbern wurden durch den Reliquiensammler Gaetano Gresler gekauft und weiterverkauft  nach Dignano in Istrien, noch heute ein fleissig besuchter Wallfahrtsort katholischer ChristInnen. Aber zu diesem Punkt variieren die (unerheblichen) Informationen bzw. Gerüchte.




S. Lorenzo wurde ab 1866 als Lager verwendet, im 1. Weltkrieg beschädigt und laut Touring-Führer Italia 1958 und 1967-70 restauriert. Viel kann bei so kurzen Arbeitszeiten aus meiner Sicht nicht gemacht worden sein, vielleicht Untersuchungen zum Status des Gebäudes.

Einen großen Moment gab es für S. Lorenzo während der Biennale 1984 mit der Uraufführung des Prometeo von Luigi Nono. Eine Reihe von Fotos aus dem Innenraum der Kirche kann man im Archivio Luigi Nono, einsehen (aber nicht straflos kopieren).

Ich habe ein Tagebuch der letzten Vorbereitungswochen des Komponisten Hans Peter Haller zu dieser Aufführung im www gefunden, sehr lesenswert, das über die musikalische Arbeit hinaus Erläuterungen zum Gebäude, zur Akkustik etc. bietet und mit dem Foto C. eine Vorstellung zum Innenraum der Kirche 1984.

(Hier gibt es eine Hörprobe zum Prometeo, aber keine Aufnahme aus S. Lorenzo.)


Der venezianische Maler Gabriel Bella (1733-99) hat im Museum der Fondazione Querini-Stampalia  mit "Einkleidung einer venezianischen Adeligen in San Lorenzo" ein anschauliches Bild hinterlassen, das mir erst jetzt, nachdem ich die Kirche endlich innen sehen konnte, einen Eindruck vermittelt: man sieht vom Hauptportal auf den Hauptaltar, vor dem die Einkleidung einer adeligen Nonne vollzogen wird. Priester und Verwandschaft vor dem Altar, zahlreiche Gäste im Chorgestühl, eingeladen zum gesellschaftlichen Ereignis der Einkleidung, vergleichbar einer Hochzeit. An den kunstvoll geschmiedeten Trenngittern sieht man vage die Nonnen, die aus Ihrer Kirchenhälfte hinter dem Hauptaltar die Zeremonie verfolgen.

In einem anderen Gemälde ist ein Teil des Klosters von San Lorenzo dargestellt: Gentile Bellinis "Wunder der Kreuzesreliquie bei San Lorenzo" (bitte Bild anklicken zur Vergrößerung). Die Scuola grande di San Giovanni evangelista veranstaltet eine Prozession nach San Lorenzo, auf der die Reliquie des Wahren Kreuzes aus dem Besitz der Bruderschaft mitgeführt wird. Sie fällt von der Brücke in den Rio di S. Lorenzo, wie auch immer, vielleicht im Gedränge und Geschubse. Das Wunder besteht wohl darin, dass das Reliquiar im trüben Wasser gefunden und herausgefischt wird... das Gebäude hinter der Brücke rechts gehört zum Komplex S. Lorenzo.

Die Information, Marco Polo sei 1324 in S. Lorenzo begraben, möglicherweise nach S. Sebastiano verlegt und dann verloren worden kann man laut A. Zorzi wohl so verstehen: auf der linken Seite von S. Lorenzo gab es nach der Überlieferung seit 1007 eine Capella S. Sebastiano (vielleicht die kleine rundliche Struktur auf dem Barbari-Plan?), in der sich diverse Grablegen (und auch einige Reliquien lokaler Heiliger) befanden. Unter anderem eine Grablege der Familie Polo, von deren Grabstein es eine Zeichnung von Cigogna gibt. Grabsteine aus der Kapelle wurden im 19. Jahrhundert noch in S. Martino gesehen, existieren dort aber nicht mehr. Vermutlich.


Grabstein Familie Polo in S. Lorenzo, Capella S. Sebastiano