2. Dezember 2012

San Lorenzo

Iacopo de Barbari, 1500, Detail: Klosterkomplex von S. Lorenzo
San Lorenzo ist seit vielen Jahren kompromisslos geschlossen, was die Neugierde von VenedigfreundInnen besonders anheizt. Wie oft habe ich vorbeigeschaut, "nur für den Fall, dass..." und wieder nur den stillen Campo gefunden, belebt von alten Damen, die im jetzigen Altenheim 'Residenza S. Lorenzo' leben und in ihren Rollstühlen in die Sonne geschoben werden oder sich die Sitzbänke mit den Katzen vom Katzenheim auf den Stufen von S. Lorenzo teilen. Und nun wird die Kirche, man muss wirklich sagen wunderbarerweise, wieder zugänglich als Biennale-Ausstellungsort des Staates Mexico. Neun Jahre wird der Bau renoviert und kann jeden Sommer während Biennalezeiten besucht werden, Kunst jeweils von Juni bis November, Architektur von August bis November.

Der Auszug aus dem Stich von Iacopo de Barbari zeigt einen Klosterkomplex, der 1500 schon sehr alt war: erster Bau im 7. Jahrhundert, im 9. Jahrhundert Benediktinerinnenkloster, mit einem reichen Nachlass bedacht im Testament des Bischofs Orso 853, abgebrannt 1105, neu errichtet 1140 unter der Äbtissin Angela, Schwester des Dogen Domenico Michiel, danach mehrfach renoviert bis zu einem weiteren Neubau unter der Äbtissin Paola Priuli


Dieser Neubau von 1592 - 1602 erscheint natürlich nicht auf dem Plan von de Barbari, deshalb muss eine Bing-Karte weiterhelfen, siehe oben, mit dem Campo S. Lorenzo, mehreren Innenhöfen bzw. Kreuzgängen und rechts dem Kirchendach. Er wurde ausgeführt von Simone Sorella (Architekt u. a. auch des - heute schiefen - Glockenturms von S. Giorgio dei Greci, am gleichen Ufer, ein paar hundert Meter weiter südlich, und Vollender des Palladio-Baus S. Giorgio Maggiore, nach dessen Tod). Die Fassadenausstattung zum Campo wurde nie begonnen.

Andreas Götz schreibt mir dazu unter Bezug auf den Venedig-Führer des Touring-Club Italia, Stand 1984:

Im Norden des Campo befindet sich noch hinter einer Fassade von 1852 ein ehemaliger Kreuzgangarm, hinter dem sich noch drei Kreuzgänge befinden sollen, davon der größte spätgotisch. Ursprünglich soll der Campo laut TCI selbst ein Kreuzgang gewesen sein, durch einen Flügel zum Kanal hin abgeschlossen. Die Pflasterung von 1747 und der achteckige Pozzo würden davon zeugen. Ein ziemlich stattlicher Komplex also, Benediktinerinnen halt. Wenn der Campo aber Kreuzgang war, so war der Teil der Kirche zum Campo der Nonnenbereich (müßte man mal überprüfen), der Zugang für die Laien war dann vermutlich über die Fondamenta San Giorgio. Wäre dann auch eine Erklärung, warum die Benediktinerinnen es nicht so eilig hatten mit der Fassade.
Es gab eine Brücke von der Nordseite des Klosters über den Rio di San Giovanni Laterano, die unter einem Sottoportego hindurch auf den Campiello di S. Giustina detto delle Barbarie führte. Das kann man auf Stadtplänen anhand der beiden abgebrochenen Gassen (ohne Brücke dazwischen) erkennen. Ich habe aber auch gelesen (wo? wann? weiß nicht mehr), dass die Brücke abgebrochen wurde zum Schutz der Bewohnerinnen (oder: zur Verhinderung von Freizügigkeiten der Bewohnerinnen).



Das Gebäude ist einzigartig in Venedig durch seine zwei Schiffe die "sozusagen quer" (Alvise Zorzi) stehen: das vordere Schiff war der Raum für das Volk, vor dem doppelseitigen Hauptaltar, einem Meisterwerk von Girolamo Campagna (1615-18), und hinter dem Hauptaltar und schmiedeisernen Gitterwänden, das gleich große, reich gestaltete Schiff für die Nonnen, eingerichtet mit viel Gold, Chorgestühl, einem großen Paradiesgemälde von Girolamo Pilotti (1628). Im vorderen Schiff wurden rechts und links des Haupteingangs im Laufe der Jahre je 3 Seitenaltäre auf Initiative verschiedener Äbtissinen eingerichtet. Links der Reliquenaltar für S. Barbaro, mit einer Altartafel von von Jacopo Palma giov. "Der enthauptete S. Barbaro wird von Engeln in den Himmel getragen"); dann der Altar der Assunta für die Gräber des Bischofs Costantino Sozomeno und der Musiker Franceso Cavalli und Giuseppe Zarlino (+1590); der dritte Altar, gestiftet von der Familie Da Mosto, für S. Giovanni mit einem Tafelbild von Pietro Mera "Taufe Christi". Rechts des Haupteingangs ein Altar für S. Marco von der Familie De Grigis, mit einem Altarbild "Die Krönung der Jungfrau mit den Hl. Agostino und Lorenzo" von Flaminio Florian; dann ein Altar für S. Paolo, Bischof von Konstantinopel und Märtyrer, mit dem Tafelbild von Domenico Tintoretto "Martyrium S. Paolo"; der dritte ein Kreuzigungsaltar, gestiftet vom Patrizier Andrea Minotto 1618-21, Tafelbild von Jacopo Palma giov..

Bei der Schließung 1810 des Klosters wurde sein Gesamtwert auf 19.638,18 venetische Lire festgelegt (was immer das heißt, ich habe diese Zahl aus "Venezia scomparsa" von Alvise Zorzi, siehe Bücherliste Sachbücher). Allein das verarbeitete Gold wurde auf 2.516 Lire geschätzt, für Zorzi der Beleg für den enormen Reichtum des Klosters. 

S. Lorenzo und das benachbarte S. Zaccaria waren die beiden wichtigsten und reichsten Klöster für Oberschichtfrauen. Hier wurden Töchter und Witwen aus Patrizierfamilien in angemessenem Rahmen versorgt, die vor allem aus ökonomischen Gründen nicht verheiratet (oder wieder verheiratet) werden sollten/konnten. Sie sollten weiter Wohlstand, Status, Bildung ihres vorherigen Lebens genießen können, inklusive Bedienung (durch Laienschwestern), und materiellem Luxus wie Kleidung, Einrichtung ihrer privaten Räume im Kloster etc., aber kein Faktor in der Erbfolge ihrer reichen Familie sein. (Siehe das mehrfach von mir empfohlene Buch von Mary Laven, Bücherliste Sachbücher).

Massen von Putten in den Wanddekorationen
1810 wurden die Kunst-
schätze der Kir-
che/ des Klosters teilweise für Vene-
dig ge-
rettet durch Kauf (der Pfarrer Don Vincenzo Ballarin von S. Pietro in Volta, Pellestrina, kaufte z. B. am 7.8.1810 eine silberne Monstranz zum Preis von 508,017 venetischen Lire; am 10.7. ging eine der Orgeln für 140 lire an das Seminario Patriarcale neben der Salute, heute noch erhalten in San Cipriano auf Murano.) oder Aufteilung an verschiedene Kirchen im Stadtgebiet, oder an ganz andere Orte (Milano, Wien)
.

Menschliche Überreste aus Altären und Gräbern wurden durch den Reliquiensammler Gaetano Gresler gekauft und weiterverkauft  nach Dignano in Istrien, noch heute ein fleissig besuchter Wallfahrtsort katholischer ChristInnen. Aber zu diesem Punkt variieren die (unerheblichen) Informationen bzw. Gerüchte.




S. Lorenzo wurde ab 1866 als Lager verwendet, im 1. Weltkrieg beschädigt und laut Touring-Führer Italia 1958 und 1967-70 restauriert. Viel kann bei so kurzen Arbeitszeiten aus meiner Sicht nicht gemacht worden sein, vielleicht Untersuchungen zum Status des Gebäudes.

Einen großen Moment gab es für S. Lorenzo während der Biennale 1984 mit der Uraufführung des Prometeo von Luigi Nono. Eine Reihe von Fotos aus dem Innenraum der Kirche kann man im Archivio Luigi Nono, einsehen (aber nicht straflos kopieren).

Ich habe ein Tagebuch der letzten Vorbereitungswochen des Komponisten Hans Peter Haller zu dieser Aufführung im www gefunden, sehr lesenswert, das über die musikalische Arbeit hinaus Erläuterungen zum Gebäude, zur Akkustik etc. bietet und mit dem Foto C. eine Vorstellung zum Innenraum der Kirche 1984.

(Hier gibt es eine Hörprobe zum Prometeo, aber keine Aufnahme aus S. Lorenzo.)


Der venezianische Maler Gabriel Bella (1733-99) hat im Museum der Fondazione Querini-Stampalia  mit "Einkleidung einer venezianischen Adeligen in San Lorenzo" ein anschauliches Bild hinterlassen, das mir erst jetzt, nachdem ich die Kirche endlich innen sehen konnte, einen Eindruck vermittelt: man sieht vom Hauptportal auf den Hauptaltar, vor dem die Einkleidung einer adeligen Nonne vollzogen wird. Priester und Verwandschaft vor dem Altar, zahlreiche Gäste im Chorgestühl, eingeladen zum gesellschaftlichen Ereignis der Einkleidung, vergleichbar einer Hochzeit. An den kunstvoll geschmiedeten Trenngittern sieht man vage die Nonnen, die aus Ihrer Kirchenhälfte hinter dem Hauptaltar die Zeremonie verfolgen.

In einem anderen Gemälde ist ein Teil des Klosters von San Lorenzo dargestellt: Gentile Bellinis "Wunder der Kreuzesreliquie bei San Lorenzo" (bitte Bild anklicken zur Vergrößerung). Die Scuola grande di San Giovanni evangelista veranstaltet eine Prozession nach San Lorenzo, auf der die Reliquie des Wahren Kreuzes aus dem Besitz der Bruderschaft mitgeführt wird. Sie fällt von der Brücke in den Rio di S. Lorenzo, wie auch immer, vielleicht im Gedränge und Geschubse. Das Wunder besteht wohl darin, dass das Reliquiar im trüben Wasser gefunden und herausgefischt wird... das Gebäude hinter der Brücke rechts gehört zum Komplex S. Lorenzo.

Die Information, Marco Polo sei 1324 in S. Lorenzo begraben, möglicherweise nach S. Sebastiano verlegt und dann verloren worden kann man laut A. Zorzi wohl so verstehen: auf der linken Seite von S. Lorenzo gab es nach der Überlieferung seit 1007 eine Capella S. Sebastiano (vielleicht die kleine rundliche Struktur auf dem Barbari-Plan?), in der sich diverse Grablegen (und auch einige Reliquien lokaler Heiliger) befanden. Unter anderem eine Grablege der Familie Polo, von deren Grabstein es eine Zeichnung von Cigogna gibt. Grabsteine aus der Kapelle wurden im 19. Jahrhundert noch in S. Martino gesehen, existieren dort aber nicht mehr. Vermutlich.


Grabstein Familie Polo in S. Lorenzo, Capella S. Sebastiano






5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebe Grigitte,
ein toller Artikel über diese Kirche, die ich noch nie bescihtigt habe, obwohl ich einmal 14 Tage in unmittelbarer Nachbearschaft gewohnt habe. Hervorragende Recherche, gute Bilder. Hat mir sehr viel Spaß gemacht, dies zu lesen und zu sehen. Nächstes Mal versuche ich es mal wieder.
Gruß
Aldebaran
Die alte Kirche auf dem Barbari-Plan scheint ja eine Kreuzkuppelkirche gewesen zu sein, ähnlich S Giacomo/Rialto und dürfte beim Neubau deutlich vergrößert worden sein.

Anonym hat gesagt…

Ganz toller Bericht!!
Wissen sie, ob es ein Spital zugehörig zum Kloster gibt/früher einmal gab?
Oder ob es in der Nähe eines gibt?

Anonym hat gesagt…

Sehr guter Artikel! :)
hat mir sehr geholfen, danke.

Wissen sie, ob es in der Nähe oder beim Kloster San Lorenzo ein Spital gibt oder füher einmal gab?
Vlt. schon im 15. Jahrhundert?

ebbonn hat gesagt…

Danke für den Kommentar.
Kein Spital, aber heute ein Altenheim der Stadt Venedig, also in kommunaler Trägerschaft, siehe http://www.comune.venezia.it/flex/cm/pages/ServeBLOB.php/L/IT/IDPagina/6100. Als 2. Adresse auf der Liste. Eine eigene Website hat die "Casa di riposo S. Lorenzo" nicht.

Bis zur Schließung von Kirche und Kloster 1810 hatte das Kloster S. Lorenzo nur die Funktion eines "Wohnheimes" in Klausur für die Töchter reicher Familien, für die aus erbstrategischen Gründen keine Ehe vorgesehen war. Ggfs. auch für Witwen aus solchen Familien. Die Frage der "Berufung" der Mädchen und Frauen stand nicht im Vordergrund.
Deshalb hatten diese Art Klöster auch keine selbstgewählten karitativen Aufgaben. Vielmehr gab es Äbtissinnen, die aufgrund ihrer Erziehung und Familienbeziehungen (bis hin zu Schwestern von Dogen, Prokuratoren etc.)

Sehr interessant zu lesen: Mary Laven, Die Jungfrauen von Venedig. Zur Zeit zum Schleuderpreis bei www.froelichundkaufmann.de

Schöne Grüße!

ebbonn hat gesagt…

Ups, Satz unvollständig:

Vielmehr gab es Äbtissinnen, die aufgrund ihrer Erziehung und Familienbeziehungen (bis hin zu Schwestern von Dogen, Prokuratoren etc.) die sich spürbar in Politik und Kirchenpolitik einmischten und damit aus der Klausur heraus eine gewisse Rolle spielten.