25. Dezember 2012

Josef Brodsky und Venedig

Der russische Dichter Josef Brodsky wurde im Juni 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgert, während ich, junge Deutsche der ersten Nachkriegsgeneration, seine Stadt Leningrad besuchte. Ich erinnere mich an die ziemlich romantischen Weißen Nächte am Ufer der Newa, die physische und psychische Erschütterung beim Besuch der Piskarjowskoje Gedenkstätte, des Friedhofs der Opfer der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, und an die hinreißende Schönheit Leningrads, die Weite des Blicks in den Straßen und auf dem Wasser, das Licht, die Großzügigkeit der Maße, das Wohlgefühl in einer Umgebung des goldenen Schnitts. Leningrad war 18 Jahre lang für mich die schönste Stadt der Welt - bis ich in Venedig ankam.

Vielleicht war seine Heimatstadt für Josef Brodsky nicht die schönste Stadt der Welt, was normal wäre, aber die Verbindung steht sofort bei seiner winterlichen Ankunft in Venedig ein halbes Jahr später: "Es war eine windige Nacht, und noch ehe meine Netzhaut irgend etwas registrierte, befiel mich ein äußerstes Glücksgefühl: schlagartig drang ein Geruch in meine Nase, der für mich immer schon ein Synonym für Glück gewesen ist, der Geruch von gefrierendem Seetang. ... In gewissen Elementen erkennt man sich selbst wieder; zu der Zeit, als ich auf den Stufen des Bahnhofs diesen Geruch einsog, waren verborgene Dramen und Ungereimtheiten offengestanden meine Stärke."   

Es folgen auf weniger als 90 Seiten Impressionen, Assoziationen, Beschreibungen, Phantasien, Menschen des winterlichen Venedig in poetischer Sprache, teilweise schräger Zusammenstellung und nicht ohne Humor.
"Links, rechts, oben und unten tauschen ihren Platz, und du findest dich nur noch zurecht, wenn du ein Einheimischer bist oder einen Cicerone bei dir hast. Der Nebel ist dicht, sichtberaubend und unbeweglich. Letzteres jedoch ist von Vorteil, wenn du zu einer kurzen Besorgung hinausgehst, sagen wir, um eine Schachtel Zigaretten zu kaufen, denn du findest den Weg zurück, und zwar duch den Tunnel, den dein eigener Körper in den Nebel gegraben hat; der Tunnel bleibt wohl eine halbe Stunde lang erhalten."

Ein Text, auf den keinE VenedigliebhaberIn verzichten sollte und als Trost fern von Venedig auch gar nicht kann. 

Blick von der Fondamenta degli Incurabili über den Giudecca-Kanal

Originalsprache ist englisch (nicht russisch), die Übersetzung von Jörg Trobitius kann ich nicht beurteilen, da ich das Original nicht kenne. Der Titel "Ufer der Verlorenen" ist jedenfalls ganz und gar verunglückt. Der Originaltitel "Fondamenta degli Incurabili" hätte unübersetzt bleiben sollen, er ist einfach eine Ortsbezeichnung, quasi ein Straßenname, östlich der Haltestelle Zattere, das Ufer des ehemaligen Hospitals der Incurabili, die heutige Hochschule für Kunst der Universität Venedig. 

 
Die Fondamenta degli Incurabili war ein Ort, an dem sich Josef Brodsky während seiner Venedigbesuche besonders gerne aufhielt, eine Tafel erinnert dort an ihn ('...er liebte und besang diesen Ort'). Ich finde an dieser Stelle des breiten Giudecca-Kanals mit dem Blick auf die Palladio-Kirchen den weit schweifenden, geblendeten Blick über die Newa in Leningrad wieder, vielleicht war es für ihn ein heimatlicher Blick.

Während der Kunstbiennale 2011 gab es an dieser Uferstraße, den Zattere, in der Bibliothek der Universiät Ca' Foscari eine Hommage an Josef Brodsky. Es war eines der vielen 'collateral events' im Programm, vor der Tür zwar das übliche rote Biennale-Schild, aber die Bibliotheksangestellten hatten keine Ahnung. Erst nach einigem Weiterreichen landete ich bei einer Bibliothekarin, die mir den Weg zeigen konnte durch das ehemalige große Warenlager, hohe Räume vom Boden bis ins Dachgestühl, zu einem Lesesaal, der für einige Wochen Brodsky diente. 


Auf einer Leinwand lief ein Film mit Venedig-Luftaufnahmen, dazu rezitierte die bekannt monotone Stimme Brodskys Texte in russischer Sprache (die ich nicht spreche). Auf den Arbeitsplätzen unter Glas und Spotlights Drucke von Gedichten in italienischer Sprache, begleitet von abstrakten (Holz?)Schnitten. 


Ich war allein, die Ausstel-
lung im Halbdunkel, die Stimme Brodskys deklamierte immer weiter, ihre Tonhöhe steigerte sich merklich, um dann plätzlich wieder zu fal-
len. Ausatmen. Persönliche Atmosphäre trotz des großen Funktions-
raumes mit den dicken Haustechnikrohren entlang der Wände, vielleicht hätte dem Dichter das gut gefallen.
Ich verdanke ihm und dem/der KuratorIn eine schöne Kontemplation bevor ich wieder in die Vormittagssonne der Zattere trat. 


Josef Brodsky verbachte sein Leben nach Leningrad in New York, viele Winter in Venedig und er ist einer der 'Gäste' auf auf S. Michele, im 'protestantischen' Teil des Friedhofs, in dem auch Orthodoxe liegen, alles, was christlich, aber nicht rechtgläubig katholisch ist. Auf seinem Grab steht ein Hausbriefkasten aus Metall, und er hat Post (ich habe ihm nicht geschrieben, aber den Deckel einen Zentimeter weit geöffnet - das musste sein).  



Josef Brodsky in Venedig (Video)
Besprechung 'Ufer der Verlorenen' von von Birgitta Ashoff  Nov. 1991
Josef Brodsky 'In the Light of Venice' (Teil)



Nachtrag 28.12.2012
Lagunenlicht hat ein kurzes, charmantes Brodsky-Video per Mail geschickt. Zwei gut gelaunte ältere Herren am Rialto. Da im Kommentarbereich keine Verlinkung möglich ist, stelle ich den Link hier ein, bitte klicken:

http://youtu.be/ebFOh0Z-tH8




Nachtrag 07.01.2013
JW (c) trägt frühe Fotos vom Grab Josef Brodskys bei. Das Grabkreuz aus dem Jahr 1998 und der neue Grabstein aus dem Jahr 2000, noch ohne Briefkasten, aber mit einer kleinen Sammlung von Schreibutensilien. Eine sehr spezielle Grabgabe. Herzlichen Dank für die Fotos!














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