28. Juli 2015

Dachboden in Venedig

Ausstellung der Philippinen "Shoal" von  Jose Tence Ruiz
unter dem Dachboden
Ich war mal das Kind, das alle Dachböden des Dorfes kannte. (Vorausgesetzt, es gab Kinder im jeweiligen Haus.) Noch heute kann ich mich an die meisten erinnern und im Geiste dort herum-
schnüffeln. Das funzelige Licht (wenn überhaupt), die niedrigen Balken, die Kälte im Winter, die stickige Hitze im Sommer, Re-
gengepladder auf den Ziegeln, der Staub, das Getier - lebendig krabbelnd oder tot und bleich unter den Dachpfannen hängend. Die Reste von Generationen, chaotisch mit geordneten Teil-
bereichen. Die Funde...! 


Auch in Venedig kann zum Glück der eine oder andere Dachbo-
den besucht werden. Sind natürlich gefegt und aufgeräumt, aber unvergleichlich unter dem alten Gebälk. Der eine ist natürlich der des Dogenpalastes, schon zweimal habe ich an der Führung der "Geheimwege" teilgenommen, der zweite war - und ist immer wieder - der Dachboden des Palazzo Fortuny. Und jetzt völlig überraschend Nummer 3! Palazzo Mora neben bzw. hinter der Kirche S. Felice. 



Blick auf die Nachbardächer...
Eingang über die Strada Nova (3659) durch einen Vorgarten mit 2 von Carole Feuermans Badeanzugdamen und dann folgt die riesige, über mehrere Etagen verteilte Wundertüte der Sammel-
ausstellung "
Personal Structures - Crossing Borders". Bereits zum 2. Mal als unabhängige Ausstellung während der Biennale (und auch wieder parallel zu den Räumen im Palazzo Bembo). 
Dieses Mal gibt es (Reihenfolge querbeet, Aufzählung unvoll-
ständig) Werke von Dieter Huber, Marc AbeleSaad Qureshi, Soojin Cha, Veronique Rischard, Orly AvivSebastian SchraderMarc Fromm, Xenia Hausner, Carl AndreAnne Herzbluth, Hans AichingerMichael Cook, Lore Bert, Martin Stommel, Bruce Barber,  Narine Araqelyan, Guy van den Bulcke, aber auch ein paar Stimmungskillern wie Hermann Nitsch oder Mike Parr, um die man in Begleitung kleiner Kinder einen Bogen machen sollte, aus meiner Sicht.


Außerdem die wichtigen Nationenausstellungen der Philippinen (nach 51 Jahren Pause), zu sehen sind der komplette Film 'Djin-
gis Khan' von 1950 und "Shoal" (Untiefe) von Jose Tence Ruiz, eine tolle Installation, die auch noch umwerfend duftet (leider gibt es so selten Geruchskunst); und die ersten Auftritte der Seychellen und der Mongolei (wunderbar, z. T. mit beuysschen Déjà-vus).  



...und die Nachbarterrassen
Aber nicht nur die Kunst im Haus ist eine Wundertüte, auch das Haus selbst, zum ersten Mal besucht und verwirrend. Einerseits die bekannte dreigeteilte venezianische Palazzostruktur - langer, das ganze Haus querender Portego mit kleineren Räumen rechts und links - andererseits scheinbar völlig unsortierte ineinander übergehende Zimmerchen. Auf der Internetseite des Hauses lässt sich das Durcheinander gut nachvollziehen: die rechte Hälf-
te des Hauses ist ein ehemaliger 'ordentlicher' Palazzo (siehe auch "Floorplan" unten rechts). Die linke Hälfte ist durch ein großzügiges Treppenhaus an den ehemaligen Palazzo Contarini angetackert und bestand ursprünglich möglicherweise selbst aus mehr als einem Teil. 

Die Familie Mora, erst im 17. JH in den Adelsstand gelangt (was in der Regel heißt, erkauft durch Beteiligung an der Finanzierung des Krieges um Kreta) wollte ein großes Haus, das ist es, wenn auch in der 2. Reihe und nicht am Canal Grande. Hat aber den Vorteil vieler überraschender Ausblicke auf die Nachbarhäuser und die Nachbarschaft von S. Felice und den Kanal von Noa-
le. 
(Auch unter Einsatz des bekannten Opernguckerchens.) Vor allem aus den oberen Etagen: großartig! 


Länderausstellung Seychellen
Womit wir beim Thema wären: Schon von den Räumen der Mon-
golei und der Seychellen trifft der Blick ins Gebälk, überraschend. Und dann geht es weiter rauf über Hühnerleitern, unter enge Dachschrägen, vorbei an Verschlägen und den düsteren Videos von Mike Parr, Stege führen über das duftende Wrack der Untiefe und die mongolischen Installationen, hier oben ist es dunkel, die wenigen kleinen Fenster sind blind, keine Aussicht, nur Blick auf abgerissene Tapeten, Gemäuer, Balken, Bauschutt, geborstene Türen, hin und wieder eingefügt einzelne Exponate. Ein herrlicher Dachboden. Geradezu perfekt. Nämlich gestaltet von der Archi-
tektin
Florencia Costa. Ursprünglich für ein Projekt der Architek-
turbiennale 2014:
Who's Afraid of Architecture. Das muss man sich vorstellen! Ich bin begeistert von der Idee und ihrer Aus-
führung, der kreativen Nutzung dieses Dachbodenraums. Überzeugend.


Von dieser Dachbodenerfahrung (und den Stunden in den vielen Ausstellungsräumen) muss ich mich erholen und lege mich eine Etage tiefer in einer kleinen Bibliothek (hier stehen Mengen di-
verser Ausstellungsbände zum Mitnehmen 
in den Regalen, aber wer will diese Brocken schon mitschleppen?) auf eines der Sofas. Kopf auf die eine Armlehne, Fußgelenke auf die andere. Stille bis auf den strömenden Regen vor dem kleinen Fenster. Hier bleibe ich... bis jemand auf deutsch sagt "Huch, hier schläft jemand - Entschuldigung...!". Schönes Nickerchen im Palazzo Mora.

Länderausstellung Mongolei


Nachtrag 1.11.2015
Siehe interessanten Artikel zum Palazzo Mora "Et in Venezia ego"

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