22. Dezember 2016

Dante und Vergil in der Lagune

(C) Weichmann
Im Briccole- und Verkehrszeichengewirr der Fahrrinne zwischen Fondamente Nove und der Friedhofsinsel San Michele passiert es, dass man eine Skulptur zweier Männer in einem Boot nicht rechtzeitig genug wahrnimmt, und schon ist das Vaporetto daran vorbei. Viele Kameras zu spät gezückt, und wenn rechtzeitig, doch mit dem Ergebnis vermatschter und verwackelter Fotos. 

Und wer soll das überhaupt sein auf dem Boot? Es gibt sachkundige Spekulationen der Vaporettopassagiere zu belauschen über den griechischen Fährmann Charon auf dem Weg zur Unterwelt, über die Heiligen Christophorus, dem Beschützer vor Gefahren auf und im Wasser, Marco höchstpersönlich bzw. Francesco von Assisi jeweils in Begleitung unterwegs in der Lagune, aber auch schräge Behauptungen und witzige Ideen. 
Für mich waren es lange Zeit einfach zwei Venezianer, denn wodurch unterscheiden sich Venezianer*innen von anderen Menschen in Booten? Sie stehen. Sie rudern stehend, sie stehen in der Bootsfähre über den Canal Grande, und wenn nötig, frickeln sie eine Stange an den Griff ihres Außenbordmotors, damit sie auch stehend Motorboot fahren können.

Alles daneben, denn hier stehen ein Florentiner des 13. JH, und ein Mantovaner des letzten JH v.d.Z., Dante und Vergil, seit der 52. Kunstbiennale 2007. Ein Werk des georgischen Künstlers Georgy Frangulyan, temporär ausgestellt, aber dann doch geblieben: "Dantes Barke". 

Eine Szene aus dem 8. Gesang der "Göttlichen Kommödie" Dantes ist die Inspiration zu dieser Skulptur: auf dem Weg Dantes durch Hölle, Purgatorium und Paradies, begleitet von verschiedenen Gefährt*innen, geht es um die Überfahrt vom 5. zum 6. Höllenkreis auf dem Fluss Styx. Der Dichter setzt mit seinem Führer Vergil in die Höllenstadt Dis über, während im schlammigen Wasser schwimmende verdammte Seelen verzweifelt Rettung suchen. Dramatisch, grausig.

Der Canale delle Fondamente Nove ist kein Fluss der Verdammten und San Michele keine Ort der Hölle, sondern einer der schönen Orte Venedigs, an denen man Ruhe finden, die Augen weiden und sich eigenen Betrachtungen hingeben kann. Dantes Meisterwerk ist nicht mehr wahrer Schrecken sondern dank Aufklärung ewige Weltliteratur; Vergils ausgestreckter Arm und Finger nicht Drohung, sondern freundlicher Wegweiser zum Cimitero in der Lagune und ein Memento mori am passenden Ort. 

Gelegenheit, die Überfahrt aus dem 8. Gesang der Göttlichen Kommodie nachzulesen:

Mein Führer war ins Boot hinabgestiegen
Und hieß nach ihm mich nehmen meine Stelle.
Erst als ich drinnen, schien es schwer zu wiegen.
Kaum daß im Schiff ich saß und mein Geselle,
Sah ich den alten Kiel von dannen eilen
Und tiefer furchen wohl als sonst die Welle.
Als wir den toten Graben so zerteilen,
Taucht ein Beschlammter auf und schreit: »Wer immer
Du seist, du kommst zu frühe, hier zu weilen.«
Und ich zu ihm: »Ich kam, doch bleib ich nimmer.
Doch wer bist du, so schmutzig und abscheulich?«
Er sprach: »Du siehst es, einer voll Gewimmer.«
Und ich: »So sei – verdammt und unerfreulich –
Weinend und klagend ewig hier gefunden!
Dich kenn ich, schwärzt dich der Morast auch greulich.«
Da hielt er jede Hand ums Bord gewunden,
Daß ihn der kluge Meister mußt verjagen,
Rufend: »Weg! troll dich zu den andern Hunden.«
Drauf er, den Arm um meinen Hals geschlagen,
Mich küssend sprach: »O Seele, glutenvolle,
Gesegnet sei der Schoß, der dich getragen.
Auf Erden lebte dieser Hochmutstolle
Derart, daß nichts wird seinen Namen loben;
Drum zürnt auch hier sein Schatten noch im Grolle.
Wie viele schilt man große Fürsten droben,
Die hier im Kot wie Säue werden stehen,
Nachlassend grause Flüche nur dort oben.«
Drauf ich: »Gern, Meister, möcht ich eines sehen,
Daß er von dieser Tunke kosten müßte,
Bevor ans Land wir aus dem Sumpfe gehen.«
Und er zu mir: »Noch eh die andere Küste
Uns naht, wirst du es schauen mit Behagen.
Befriedigung fordert billig solch Gelüste.«
Kurz drauf sah ich erbärmlich ihn geschlagen
Von einer Schar der Kot- und Mistbeschlammten:
Gott will ich ewig Lob und Dank drum sagen!
»Packt den Argenti!« schrien die Zornentflammten.
Da sah ich selbstzerfleischen sich mit Bissen
Aus Wut den florentinischen Verdammten.
Hier trennten wir uns –mehr nicht lohnt zu wissen;
Doch drang ans Ohr mir jetzt solch schmerzhaft Brüllen,
Daß ich vorspähend das Auge aufgerissen.
Der gute Meister sprach: »Bald wird enthüllen
Sich dir ein Ort, mein Sohn: Dis heißt die Stätte,
Die scharenweis bösartige Bürger füllen.« –
»Schon konnt ich, Meister, ihre Minarette,«
Sprach ich, »im Talgrund voneinander trennen.
Dort glühts, als ob es Feuer in sich hätte.«
Und er: »In ihrem Schoß das ewige Brennen
Macht solche Röte diese Stadt gewinnen.
Bald läßt die untere Hölle dichs erkennen.« –
Einlenkten wir in tiefe Grabenrinnen,
Die jene hoffnungslose Stadt umschlangen.
Mir schienen eisern Mauerwerk und Zinnen.
Nicht ohne einen großen Umweg drangen
Wir dahin, wo des Fergen barsche Worte
»Steigt aus, hier ist der Eingang!« uns erklangen.
Quelle: Projekt Gutenberg





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