17. Juni 2018

Gretchenfrage in Venedig - Reformation

Fondaco dei Tedeschi, ehemaliger Handelshof der
deutschprachigen Händler (vor Neugestaltung)

Während die Länder Europas im 16. JH ihre jüdische Bevölkerung auswiesen, zwangstauften und totschlugen, gründete die  Republik Venedig in wohlverstandenem eigenen Interesse eine Siedlung für venezianische und ausländische Juden und Jüdinnen. In der Folge wurde im Ghetto der Bau von 5 Synagogen erlaubt, heute noch zu besichtigen, 2 davon halbjährlich wechselnd in Funktion.  (Siehe auch Eintrag "29.3.1516 - Ghetto in Venedig".)

Die seit dem 13. JH in Venedig existierende "andersgläubige" griechisch-orthodoxe Gemeinde von Händlern, Handwerkern und Seeleuten durfte die römisch-katholische Kirchen S. Biasio und S. Giovanni in Bragrora für Gottesdienste und ihre Brüderschaft S. Nikolaos mitbenutzen. Als Konstantinopel 1453 von den Osmanen genommen wurde, floss zusätzlich byzantinischer brain drain nach Venedig. Im 16. JH baute die Gemeinde nach langen Bemühungen um Genehmigung die eigene Kirche S. Giorgio dei Greci und ein Bruderschaftsgebäude, heute das Ikonenmuseum und das Griechische Institut für byzantinische und postbyzantinische Studien

Die deutschsprachige Gemeinde von Geschäftsleuten, Handwerkern und Künstlern, nicht "andersgläubig", aber ausländisch, nutzte für ihre Gottesdienste und 2 Bruderschaftsaltäre die Kirche S. Bartolomeo (restauriert, aber leider dauerhaft geschlossen) neben dem Fondaco dei Tedeschi, ihrem Handelshof. 
Die deutsch(sprachig)e lutherische Reformation fand ihren Eintritt hier am Rialto, durch Gespräche und Predigten, später durch reformierte Gottesdienste mit protestantischen Priestern, und erweiterte sich im Laufe der Zeit um die Gemeinden der anglikanischen, niederländischen, Graubündner- und Waldensergemeinden. Wieder profitierte die Stadt von eingewanderter oder durchreisender Kultur und Weltanschauung. (Siehe auch Eintrag "Lutherjahr - Venedig ist Reformationsstadt Europas".)

Wie bei den jüdischen Gruppen aus ganz Europa gründete die venezianische Liberalität in Religionsfragen nicht nur edel auf religiöser Toleranz, sondern wesentlich auf der Priorität wirtschaftlicher Interessen. Zwar wurde 'Häresie' in allen ihren Formen verfolgt, aber neben jedem Richter der römischen Inquisition sass ein venezianischer Gutachter (Savi all'eresia). Die im Ergebnis frühen und vielfältigen reformierten Gemeinden Venedigs sind ein spannender Teil venezianischer Religionsgeschichte, der eine breite Palette grundlegender angrenzender Themen betrifft. 


Nachzulesen ist die Geschichte der Reformationsbewegungen in Venedig im soeben erschienenen Buch 

von Cristina Gregorin (Text) und Norbert Heyl (Fotos). 
In diesem Bezug kommen hochinteressante Themen aus Politik, Kultur- und Kirchengeschichte der 15.-18. JH zur Sprache; im Detail z. B. venezianische Justiz, religiöse Kunst und Architektur, Sepulkralkultur und Bedeutung des venezianischen Druck- und Publikationswesens. Dazu Details zur Entwicklung der ausländischen reformierten/protestantischen Gemeinden und deren z. T. schillernde Protagonisten.

Die informativen Texte stellen neben den vielen eindrucksvollen Einzelheiten die erforderlichen einfachen historischen Zusammenhänge her ohne für normale Leser*innen sprachlich zu hoch anzusetzen oder zu viele Details anzuführen, die auf Vorwissen abheben und lesen sich spannend in einem Rutsch durch, also auch noch kurz vor der nächsten Reise. 
Es gibt eine kleine Bibliografie mehrheitlich italienischer Werke, aber nicht nur.
Die Übersetzung (Naemi Reymann) stolpert schon mal in lokalen Details. Es gibt gute Ortsbeschreibungen mit Hilfe des De' Barbari-Stadtplans von 1500 (unverwüstlich in allen historisch-geografischen Detailfragen und grundsätzlich ein Pluspunkt). 
Sehr gut gefällt mir die Ergänzung der Texte durch viele Fotos von Norbert Heyl, ohne dass ein reiner Bildband aus der Sache wird. Die Textautorin Cristina Gregorin ist über den Reiseveranstalter Slow Venice auch als Stadtführerin zu buchen. 
Das Buch, um auch das noch zu sagen, ist in schöner Qualität und hochwertig produziert und mit 20 € vergleichsweise ein Schnäppchen.

Für Venedig-Appassionati lesens- und weiterempfehlenswert!






.


Keine Kommentare: