5. April 2021

Kreuzfahrtschiffe aus Venedig verbannt...! Ach was...?!


Hatten wir das nicht schon mal? Schon mehrmals? 2013 wurden Schiffe über 96.000 Tonnen aus dem Giudeccakanal "verbannt", die Entscheidung gerichtlich wieder zurück genommen. 2017 versuchte es eine andere (der häufig wechselnden italienischen) Regierungen mit dem Vorschlag, große Schiffe aus dem Canale della Giudecca zu "verbannen" und nur noch in Marghera docken zu lassen - woran sich niemand hielt.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie die internationalen Medien brav eine Pressemitteilung verbreiten, in der die "Verbannung" der Kreuzfahrtschiffe aus Venedig angekündigt wird. Bis auf wenige Ausnahmen machen sich Journalist*innen nicht die Mühe, die Quellen dieser Information zu prüfen.


Zuletzt habe ich dazu im Feburar 2018 geschrieben: 
"Wenn die Tagesschau entwarnt..."
und mir dann das Thema einstweilen geschenkt.


Jetzt wirbeln die internationalen Medien erneut und verkünden die "Verbannung" der Schiffe aus Venedig und den Bau einer Kreuzfahrtstation außerhalb der Lagune, ja sogar Offshore! Wer hofft, auch nach der Covid-Pause der Kreuzfahrtindustrie "keine Riesen mehr in Venedig" sehen zu müssen, täuscht sich wieder einmal bzw. wird wieder einmal vom Mediengeschwätz getäuscht.

Hier ist die Basis dieser Medienmeldungen, der Text des Erlasses des Ministerrates vom 31.3.2021 (scrollen, 2. Absatz "Trasporto Marittimo": 

TRASPORTO MARITTIMO
Disposizioni urgenti in materia di trasporti e per la disciplina del traffico crocieristico nella laguna di Venezia (decreto-legge)
Il Consiglio dei Ministri, su proposta del Presidente Mario Draghi, del Ministro delle infrastrutture e della mobilità sostenibili Enrico Giovannini e del Ministro della cultura Dario Franceschini, ha approvato un decreto-legge che introduce disposizioni urgenti in materia di trasporti e per la disciplina del traffico crocieristico nella laguna di Venezia.
Per contemperare le esigenze di tutela del patrimonio artistico, culturale e ambientale di Venezia e quelle legate allo svolgimento dell’attività crocieristica e al traffico merci, il decreto prevede l’indizione, da parte dell’Autorità portuale del Mare Adriatico settentrionale, di un concorso di idee, volto a raccogliere proposte e progetti di fattibilità tecnica ed economica per la realizzazione di punti di attracco utilizzabili dalle navi adibite al trasporto di passeggeri superiori a 40mila tonnellate e dalle navi portacontenitori adibite a trasporti transoceanici.
Il testo prevede poi misure atte a garantire la mobilità delle persone e la circolazione delle merci su tutto il territorio nazionale, attraverso la proroga dei collegamenti marittimi con Sardegna, Sicilia e isole Tremiti svolti in regime di servizio pubblico, per il tempo necessario a consentire la fine delle procedure di gara e, in ogni caso, fino al 31 maggio 2021. Infine, il decreto proroga di 3 mesi (dal 31 marzo al 30 giugno 2021) l’entrata a regime del documento unico per la circolazione dei veicoli iscritti al Pubblico Registro Automobilistico (PRA). Lo slittamento consente di perfezionare le procedure telematiche relative ai veicoli adibiti al trasporto delle merci e agli autobus, sottoposti a particolari normative di settore, e di completare la fase di rodaggio di tutte le procedure.

Übersetzung:
"Dringende Bestimmungen zum Verkehr und zur Regulierung des Kreuzfahrtverkehrs in der Lagune von Venedig (Gesetzesdektret).
Auf Vorschlag des Präsidenten Mario Draghi, des Ministers für nachhaltige Infrastruktur und Mobilität Enrico Giovannini und des Kulturministers Dario Franceschini genehmigte der Ministerrat ein Gesetzdekret, das dringende Bestimmungen zu Verkehr und zur Regulierung des Kreuzfahrtverkehrs in der Lagune von Venedig enthält.
Um die Bedürfnisse des Schutzes des künstlerischen, kulturellen und ökologischen Erbes Venedigs und des Schutzes von Kreuzfahrten und Güterverkehr in Einklang zu bringen, sieht der Erlass vor, seitens der Hafenbehörde der nördlichen Adra einen Wettbewerb auszurufen um Ideen zusammen zu tragen, die darauf abzielen, Vorschläge und Projekte von technischer und wirtschaftlicher Machbarkeit für den Bau von Liegeplätzen zu sammeln, die von Schiffen für die Beförderungen von Passagieren über 40.000 Tonnen und von Containerschiffen für den Transozeantransport verwendet werden können.
Der Aufruf zielt auch auf Maßnahmen, die die Mobilität von Menschen und Warenverkehr im gesamten Staatsgebiet durch die Ausweitung der Seeverbindungen mit Sardinien, Sizilien und den Tremiti-Inseln für die Zeit gewährleisten, die für die Dauer des Verfahrens erforderlich ist, das auf jeden Fall am 31.5.2021 schließt. Schließlich verlängert der Erlass das Inkrafttreten des einheitlichen Dokuments für den Verkehr von  im Öffentlichen Automobilregister (PRA) zugelassenen Fahrzeugen um drei Monate (vom 31. März bis 30. Juni 2021). Der Beleg ermöglicht es, die Telematikverfahren für Fahrzeuge, die für den Transport von Gütern und für Autobusse verwendet werden, unter Berücksichtigung besonderer Branchenvorschriften zu verbessern und die Einführung aller Verfahren abzuschließen.



Es geht bisher nur um die Ausschreibung von Projektanträgen zur wirtschaftlichen und technischen Entwicklung von Hafenanlagen für Kreuzfahrtschiffe über 40.000 Tonnen und Containerschiffe für den Tranzozeantransport. Eine Absichtserklärung, mehr ist das noch nicht. Auch wenn für die Ausschreibung 2,2 Millionen € zur Verfügung stehen. Das Ergebnis und weitere Entscheidungen bleiben abzuwarten!


Es gibt bereits vorhandene Vorstellungen (erstaunliche, finde ich Ahnungslose!) wie nach dem Dekret von 2017 von Venezia Today vorgestellt; oder Porto Offshore Venezia, vorgestellt in Leipzig 2014; oder eine Nummer kleiner Seingim; oder das ebenfalls seit 2014 existierende Projekt von Duferco, das schon 2001 als Ergänzung der M.O.S.E.-Anlage in der Lidoeinfahrt präsentiert wurde. Die Kreuzfahrtdocks nahe Punkta Sabbioni können in 3 Jahren fertig gestellt sein. Das Projekt hatte bisher gegen die nach dem Erlass von 2017 von Stadt- und Regionalregion durchgesetzten und jetzt praktisch fertig gestellten Docks in Marghera keine Chance. Duferco vermarktet das elektrisch angetriebene Transportsystem für Kreuzfahrer innerhalb der Lagune "Venis Cruise" als kleine Lagunenkreuzfahrt; siehe dazu auch Artikel in der Nuova vom 2.4. "Scalo Duferco a San Nicolò Poi in laguna solo con motori elettrici". Ob der bisherige Plan für die Nutzung durch Schiffe des Transozeantransports geeignet wäre oder angepasst werden könnte, bliebe abzuwarten.

Von Technik und Finanzierung verstehe ich nichts, von Calls und Ausschreibungen etwas mehr und von der Dauer von Auswahlverfahren, von Genehmigungsprozessen, inkl. EU-Projekten, die sich in dieser Größenordnung über Jahre hinziehen. In denen zusätzlich die nationale, regionale und lokale Politik durch Wahlen mit neuen Akteur*innen ausgestattet werden könnte - mit welchen Auswirkungen? Da kann man viel befürchten, ohne grundsätzlich pessimistisch zu sein.

Die "vorläufigen" Docks für Kreuzfahrtschiffe, die finanziert und in Marghera gebaut wurden, erwartet die Kreuzfahrtindustrie schlüsselfertig, wenn sie "nach" der Covid Pandemie (wann?) wieder ins Geschäft einsteigt. Werden Arbeit und Kosten für die erforderliche Kanalvertiefung vor Marghera, den Bau von Docks und Passagierterminals, die einzurichtenden Transportmittel zu Wasser und Land für Passagiere etc. einfach abgeschrieben, wenn ein neuer Hafen außerhalb der Lagune tatsächlich in Gang käme - "Verschwendung" für vielleicht 5 Jahre Betriebsdauer? Oder würden die Betreiber des Port of Venice nicht alle Register ziehen (42.000 Arbeitsplätze, Strukturwandel in Marghera, Beherbungsindustrie in Mestre etc.) um diesen Standort zu erhalten? In dessen Infrastruktur derzeit 41 Millionen fließen?! Geht es nach den Entscheidern aus Wirtschaft und Politik, bleibt alles wie es ist. 

"Dies ist die bevorzugte Hypothese der Region, der Lega, der Hafenbetreiber und der Stadt. 'Ich bleibe beim Kanal Vittorio Emanuele für die Linie Petroli-Margher und Marittima' sagt der Regionalpräsident Luca Zaia, 'es ist das Einfachste: so entfernen wir die Schiffe von San Marco und behalten die Marittima'. Gleiche Linie wie der Bürgermeister Luigi Brugnaro. Gestern zog er es jedoch vor, den Regierungserlass nicht zu kommentieren, obwohl der heute mit Minister Enrico Giovannini darüber gesprochen hatte."
(La Nuova 2.4. "Grandi navi, concorso d'idee dai tempo lunghi. Intanto il terminal crociere andrà a Marghera".)

Wie sich die Ideensammlung für die neuen Kreuzschifffahrtsdocks auch entwickeln wird: weiterhin, "vorläufig", fahren kleinere Schiffe durch die Stadt, sehr große Schiffe durch dieEinfahrt von Malamocco durch die Lagune. Ästhetisch wird das eine Verbesserung sein, aber die Fragen des Umweltschutzes für die Lagune, des Denkmalschutzes für die Stadt, der Gesundheit der Bewohner*innen, des Welterbes für uns alle, bleiben stehen wie bisher. 

Wir reden wahrscheinlich in einigen Jahren wieder über die "Verbannung" der Kreuzfahrtschiffe aus Venedig, vor welchem Hintergrund auch immer. Wollen wir hoffen, dass dann die Verbannung tatsächlich stattfindet und der jahrelange Einsatz venezianischer Bürgerinitativen erfolgreich war.


Ich füge als Ergänzung (vor allem für mich selber) Artikel an, die nach der Veröffentlichung dieses Eintrags am 5.4. erschienen und interessante, erweiterte Aspekte bringen. 

5.4. ytali. Grandi Navi fuori della laguna. Definitivamente e immediatamente
6.4. Italia Nostra La soluzione è imporre navi più piccole alle compagnie di navigazione
6.4. ytali. Fuori le Grandi Navi. Per restare dentro la Laguna
6.4. UNESCO Large cruise ships banned from entering Venice lagoon

💥


Oha. Das ging schneller als erwartet! Nach 2 Wochen ist die Verbannung schon wieder vorbei.

15.5. La Nuova Grandi navi, tornano le MSC in Marittima e a Marghera und Due grandi navi in Bacino San Marco
Im Juli fahren MSC Orechstra und MSC Magnifica wie gewöhnt durch das Bacino, vorbei am Palazzo Ducale und S. Giorgio Maggiore, um ebenfalls wie gewöhnt in der Marittima festzumachen. Weil die "Übergangslösung" des Kreuzfahrthafens in Marghera noch nicht ganz fertig ist. Was soll man machen...? Es bleibt wie gewöhnt alles beim Alten in Venedig.

16.6. CNN Cruise ships head back to Venice despite ban

17.4. Il Fatto Quotidiano Venezia, il governatore Zaia annuncia il ritorno delle crociere (Mehr als eindeutig, dass Regional- und Stadtregierung nicht im Traum an die Verwirklichung der Verordnung der Minister denken.)

19.4. Huffpost Un cavillo riporta le Grandi Navi a Venezia, in attesta di "nuove idee" (Hier die  juristische Begründung der aktuellen Situation nach dem Ministererlass)

22.4. La Nuova Grandi navi a Venezia, stop dal Senato. "Lo scavo del canale è una provocazione"

24.4. Venezia Today Crociere: ecco le offerte per il terminal canale nord, sponda nord, a Porta Marghera (Als hätte es den Ministererlass nie gegeben.)

29.4. The Art Newspaper Has Venice really banned cruise ships? It appears not.

29.4. AgCult DI Venezia: via libera Senato, testo ora alla Camera. Sehr gut. Der Senat hat den Ministererlass mit 168 Stimmen, keinen Gegenstimmen und 26 Enthaltungen passieren lassen. Jetzt kommt die Sache vielleicht langsam, langsam in die Gänge...?

8.5. CNN The truth about cruise ships in Venice


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