22. März 2020

Kristallklar

Arsenale Juni 2014

"Kristallklar" ist das Stichwort, das derzeit durch die Medien aller Kontinente glitzert, nicht nur der social media, sondern auch der Printmedien (Spiegel, Guardian etc.). Schlagzeilen wie "Venezianische Kanäle waren seit Menschengedenken nicht so sauber wie seit der Coronavirus-Ausgangssperre" führen ganz schnell zu Fischen, Schwänen und Delfinen, die sich in Venedig tummeln. Und in den Kommentaren der Leserschaft herrscht neben handfesten Spekulationen über das schmutzige, ja stinkende Kanalwasser gefühlige Ökoromantik über Mutter Erde vor, die sich ihr Eigentum zurück nimmt, da die Menschen zum Glück aus dem Weg sind. 

Alle verlinken die selben kurzen Videofilmchen bzw. Fotos 1. eines Kanals, dessen algenbewachsener Grund zu sehen ist und ein Schwarm sehr junger Fische  (die es überall in den Nebenkanälen und in der Lagune gibt); 2. eines Delfins, gesichtet im Hafen des sardinischen Cagliari; 3. den Schwänen, die auf Burano leben, inklusiver bunter Buranohäuser im Hintergrund. In den ersten Meldungen wurden die Dinge noch halbwegs auseinandergehalten. Mit der Menge Retweets und der abgeschriebenen Artikel wurden Filmchen und Details immer weiter verrührt und begeistert auf die venezianischen Kanäle verteilt. Auch nicht der WWF Schweiz konnte sich einen reißerischen Tweet verkneifen. 
Wir sind so hoffnungsbedürftig in diesen Tagen der Schreckensnachrichten und -bilder, das Bild der wiedergeborenen Natur so tröstlich, dass jede*r dieses vermeintlich positive Ergebnis der Seuche mitteilen möchte. Natürlich gibt es auch Zweifler die dagegen halten, aber die gleichen Bilder ins Netz stellen, und schließlich die Realistischen mit der Erkenntnis, dass es sich um Fake news handelt, und nochmal mit diesen Bildern.
(Ergänzung 30.3.: Endlich nimmt sich zum Glück auch die Satire des Themas an.)



Gelegenheit, ein paar Sätze zur Abwasserentsorgung und zur Fauna Venedigs zu sagen.

Die sehenswerte Doku "Come funziona Venezia" zeigt neben der Stadtentwicklung und dem historischen Aufbau der Gebäude auch den traditionellen Weg der Abwasserentsorgung. (Bei fehlenden Italienischkenntnissen kann man den Text für Gehörlose im Link oben unter dem Film stehend per Google translate übersetzen und bequem lesen. )



Die venezianische Bauordnung sieht natürlich den Einbau von Kläranlagen und die Aufbereitung von Abwässern zwingend vor. Wo es geht! Also bei neuen Strukturen wie z. B. dem Gerichtszentrum und dem Studierendenwohnheim bei S. Marta, oder bei Konvertierung alter Gebäude in Hotels (z. B. derzeit die Ca' di Dio an der Riva). Aber die 1500 Jahre fortschreitende Bebauung der Laguneninseln, teilweise nur auf Sandbänken und einem Wald von Baumstämmen als Unterbau, schränkt die Raum- und Statikaspekte nachträglicher Unterbringung von Kläranlagen ein.

Ich habe eine venezianische Architektin zum Thema befragt, die mir das in Venedig verwendete 3-Kammern-System erklärte. Wenn die 3. Kammer gefüllt ist, ruft man den Veritas-Service, der mit einem Boot und genügend Verlängerungsrohren (ca. 15 cm Durchmesser, schwarz, geriffelt, kennen wir alle aus dem Stadtbild) kommt und die Kläranlage absaugt, egal wie weit entfernt sie vom nächsten Kanal ist. Der Job wird zeitnah, schnell, diskret, geräusch- und geruchsarm erledigt. Das abgesaugte Material wird wegen der Giftstoffe des Inhalts nicht als Dünger oder dergl. verwendet. Es wird getrocknet und per Verbrennung in Energie umgewandelt (sagt Veritas). 

Die Bakterien, die die Ablagerungen in den Kammern klären, gibt es in Dosen in jedem Haushaltswarengeschäft. Wer vergisst, rechtzeitig Bakterien nachzufüllen, wird durch einen wirklich schrecklichen faulig-fäkalen Geruch daran erinnert. 
(Das Alleinstellungsmerkmal des ehemaligen Klosterhostels des Redentore, mittlerweile geschlossen, war diese teilweise atemberaubende Geruchswolke im Garten zur südlichen Lagune. Der Betreiber war Nichtvenezianer, ihm fehlte naturgemäß das Feeling für diese Aufgabe und er hatte auch nie Zeit für eine Pause im Garten. Er wusste also nichts vom Killergeruch, solange man ihn nicht alarmierte.) 

Die Brauchwässer allerdings, die nicht durch die Kläranlagen wandern, z. B. Waschmaschinenwasser, werden durch die Fallrohre ungeklärt in die Kanäle geleitet und bei der nächsten Flut mitgenommen. Bei Flut befinden sich die Öffnungen der Rohre unter dem Wasserspiegel, bei Ebbe kann man das Laugenwasser in den Kanal plätschern sehen, wenn man es sehen will.
Die Mietshäuser vom Ende 19. JH an der Celestia, wo ich seit vielen Jahren mein venezianisches "Zuhause" miete, leiten enorm viel Waschmaschinenwasser in den Canale delle Fondamente Nove ein, morgens ist das Kanalwasser bedeckt mit Schaumkronen und das Wasser rund um die Haltestelle Celestia riecht intensiv nach Waschmitteln.

Wenn also, wie zur Zeit, nur ca. 50.000 Venezianer*innen und 0 Tourist*innen die Toiletten benutzen, duschen und Wäsche waschen, die Kanäle aber alle wie immer 2x täglich mit frischem Meer durchgespült werden, ist das Kanalwasser zwischen Ebbe und Flut logischerweise sauberer. Aber "kristallklar" ist natürlich nicht chemie-, bakterien- und virenfrei und Schwimmen in den Kanälen, wie noch vor 70 Jahren üblich, ist selbstverständlich ausgeschlossen, auch wenn es sehr schlichte Tourist*innen manchmal tun.



Text: Domenico Varagnolo


Die geringe Zahl der in der Stadt anwesenden Menschen wirkt sich natürlich auf den Bootsverkehr aus, der die Ablagerungen in den Kanälen aufwirbelt, die in den letzten 200 Jahren nicht mehr so regelmäßig und gründlich gereinigt werden wie zu Zeiten der Republik. Keine Taxiboote, wenig Transportverkehr des täglichen und des touristischen Bedarfs (alle Arten von Lebensmitteln, Toilettenpapier(!), gebrauchte und frisch gewaschene Hotelbettwäsche, Massen überflüssiger Trinkwasserflaschen et.), wenig Autofährenverkehr zum Lido. Man sieht die Bilder des spiegelglatten Canal Grande, Canale della Giudecca etc. und weiss: das neben der Bedrohung durch das Hochwasser wichtigste Umweltproblem Venedigs, der Moto ondoso, Wellen durch  Motorboote und Transportkähne ist derzeit nicht dramatisch. (Der noch bedrohlichere Moto ondoso der Grandi Navi fällt im Moment jahreszeitlich sowieso aus.)


Die Diversität der Fauna Venedigs ist natürlich kein Ergebnis einer Woche ohne Tourismus. Das ist Geschwätz. Die Tiere "erobern" sich nicht ihr Terrain zurück man kann sie nur besser sehen im klareren Wasser. Schulen sehr kleiner Fische waren da schon immer, wenn man gut hinguckte, auch Gruppen von ca. 20 cm langen Fischen unter geparkten Booten, ebenfalls nicht ganz leicht zu sehen, aber da. Das trifft auch auf andere Wassertiere zu, z. B. die Krabben und Krebse, die ich im Arsenale fand. Sie sind nur bei Ebbe zu sehen und versuchen, schnell wieder unter Wasser zu kommen. Nichts für den ungeduldigen Schnappschuss.


Die vielen Angler, die sich täglich auf ihre kleinen Boote zwischen S. Pietro di Castello und der Insel Certosa zurückziehen, pflegen sicher nicht nur ihr Privatleben, sondern fischen auch für ihre Bratpfanne.
Aber Delfine aus der Adria sind bisher nicht in der Lagune aufgekreuzt und wenn, wäre das ein Patzer wie vor einigen Jahrzehnten der kleine Wal, der versehentlich den Rhein bis Köln raufkam und sich wieder davon machte. 


Silberreiher Celestia 2019

Auf der vor einigen Jahren künstlich angelegten Salzwiese zwischen Friedhof und Arsenalemauer hat sich kontrolliert eine große Anzahl diverser Lagunenvögel angesammelt.
Silberreiher leben an einigen Stellen in der Stadt. Mir sozusagen persönlich bekannt sie die an der Haltestelle Accademia, die sich inmitten des Trubels aufhalten und ernähren, und der Silberreiher an der Haltestelle Celestia, den ich seit Jahren fotografiere, wie er sich elegant putzt. 
Die Enten auf der Giudecca bei S. Cosmas und Damiano leben "schon immer" da wie die Schwäne auf Burano, gehören jemandem und werden sicher gelegentlich gegessen (die Enten). 


Entenfamilie bei S. Cosmas und Damiano, Juni 2019

Die Tierwelt der Lagune allerdings kriegt nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Nur die wenigsten Besucher nehmen sich Zeit, ein paar Tage in der nördlichen Lagune zu verbringen - Empfehlungen dafür werden das Thema eines der nächsten Einträge. Besonders eindruckvoll die Flamingoschwärme, die um Torcello und bei Jesolo rasten und für Ornitholog*innen eine Freude sind.
Website einer Bootsvermietung, die mit den Flamingos in der Lagune wirbt: Website der Casa Museo Andrich (siehe auch weitere Einträge zu Torcello)

Haubentaucher Canale delle Fondamente Nove März 2019

Ratten, Mäusen, Möwen, Tauben etc. ziehen aus dem Shut down Venedigs keinerlei Vorteile, denn nach Türeinsammlung von Hausmüll schränkt nun auch noch der Ausfall des essbaren Abfalls von Besucher*innen ihre Lebensqualität weiter ein. Und alte Menschen, denen das vor Jahren erlassene Vogelfütterverbot wurscht ist, dürfen nicht vor die Tür mit ihren Brotresten. Schlechte Karten. 
Aber auch für die Menschen ohne Arbeit, an die wir alle mit Mitgefühl und Solidarität denken und in der Hoffnung, dass "kristallklares Wasser" eine Metapher sei für das, was wir künftig besser machen wollen, wenn wir können.

Eine Venezianerin schrieb dieser Tage im Internet "Wenn das vorbei ist, feiern wir Redentore  (Il Redentore) wie noch nie!". Das ist der Spirit eines 1000jährigen Gemeinschaftssinns, der historische Common Sense uralten Zusammenhalts, der sich trotz schwindender Zahl der Echten Venezianer*innen immer noch erhält.





Einträge zur Situation Covid 19 in Venedig:



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4 Kommentare:

Hannelore hat gesagt…

Liebe Brigitte,
vielen Dank für den (erneut) umfangreichen Blogeintrag. Jetzt erinnere ich mich, dass ich wiederholt an den fontamenta der Giudecca diese Abpumpschiffe gesehen habe. Zusätzlich beantwortet die Doku "Come funziona Venezia" meine Fragen zum Abwassersysthem in Venedig, dazu die amüsante Übersetzung von Google.

Natürlich konnte ich auch früher schon viele, kleine Fische in den Kanälen beobachten: Z.B. auf Sant'Erasmo. Als ich von dieser schönen Insel abgereist bin, spazierte auf dem Dach der Varporete-Haltestelle ein Silbereiher auf und ab und nickte mir zu, gerade als wollte er sagen: Du kommst bald wieder!

Liebe Grüße
Hannelore

ebbonn hat gesagt…

Liebe Hannelore,
danke für den Kommentar und für das genau passende Mail vor einigen Tagen! Ich wünsche Dir einen inspirierenden Dantetag!
Schöne Grüße, Brigitte

Irmgard hat gesagt…

Liebe Göttermutter,

der sehr schön abgelichtete "Silberreiher" ist ein Seidenreiher, deren es viele in Venedig gibt und wovon ich einen auch von Person kenne, nämlich den am Anleger Redentore. Leider fiel unsere diesjährige Märzreise nach Venedig ins Wasser. Schön, sie fiel nicht ins klare Wasser, sondern dem Virus C. zum Opfer. Und am Rande des Canal Grande habe ich schon Mittelmeersilbermöwen erfolgreich Krabben fischen gesehen, und zwar deutlich vor C. im trüben Wasser. Auch wenn es besser ist, den Müll an der Haustür zu sammeln, habe ich schon prima Fotos von Möwen gemacht, die an wenig von Touristen besuchten Stellen den Müll fledderten und sich gütlich taten. Sie werden schon nicht verhungern. Hoffentlich können wir bald wieder die Stadt unserer Träume besuchen. Vielen Dank für Deinen blog und

Salve, Irmgard

ebbonn hat gesagt…

Liebe Irmgard,

danke für Deinen Kommentar und die Korrektur - Seidenreiher werde ich künftig verwenden. Den am Redentore bzw. der Palanca kenne ich auch "persönlich". Aber vor allem den vor meinen Fenstern an der Celestia. Fallen uns die Reiher an den Haltestellen deshalb besonders auf, weil wir Zeit haben zu gucken, wären wir aufs Bateo warten, oder gibt es einen Grund, warum sie gerne an Haltestellen herumsitzen? Kleine Schwärme von Jungfischen o.ä.?