6. Juli 2020

Neun Tage in Venedig



Neun Tage in Venedig hätten wir wohl gerne jetzt. Gassen und Campi noch leer, Kirchen geöffnet, Museen schrittweise auch, die Stadt und der Service kommen nach dem Shut Down wieder in Schwung, aber der Zauber der Isolation ist noch nicht vorbei. Covid 19 ist natürlich auch nicht vorbei, bei weitem nicht, und ich wundere mich über die ersten Grüße aus Venedig von Appassionati, die nicht an sich halten können und die noch prekäre Situation als Einzigartigkeit genießen und zusätzlich ein paar Bakterien und Viren zur bunten internationalen Mischung beisteuern möchten.

Dabei schaffen die Einheimischen es auch ohne Unterstützung, den R-Faktor von 0,43 wieder auf 1,63 zu wuchten: gerade eine kleine Geschäftsreise nach Serbien, wenige Tage diverser Kontakte, bei der Rückkehr ein positiver Test. Der Infizierte verweigert die Krankenhausquarantäne und mißachtet die häuslichen Quarantäneauflagen, obwohl, oder vielleicht auch weil, die allgemeinen Covid-Verordnungen im Veneto weitgehend aufgehoben sind. Gestern schon starb der Mann, der als neuer "Patient 0" galt und nach dessen Kontakten nach seiner Rückkehr in Vicenza gefahndet wird. Eine unbekannte Zahl von Infizierten. Eine versaute Statistik. Für heute hat Luca Zaia, Präsident der Region Veneto, einen neuen verschärften Erlass angekündigt.* Jeder Egoist nimmt was er kriegen kann. Beim Wort "Kamikaze" denkt jeder an 1 Person, aber nicht an die Vielzahl der Beteiligten, um die es eigentlich geht. 

Die venezianische Wirtschaft, allen voran der Bürgermeister und die Stadtverwaltung, schreit nach Rückkehr des Tourismus, und zwar des Massentourismus, sofort, denn sonst reichen die Einnahmen nicht. Hier gilt der schöne Satz von Jenny Holzer "Protect me from what I want." Denn "aber jetzt SLOW" wird reihum zitiert und für die Zukunft behauptet, aber ohne Ahnung und Plan und deshalb quasi folgenlos bis auf die Umleitung der Tagesausflüglerboote an die Fondamente Nove. Die Riva wirkt "SLOW" weil aufgeräumt und der Widerstand der Bewohner*innen von Cannaregio - geschenkt.



Die neun Tage in Venedig 

fanden im November 1785 statt, der Besucher war der Venezolaner Francisco de Miranda, ein Jahr vor Goethes erstem Venedigbesuch. Sein venezianisches Tagebuch, übersetzt und kommentiert von Jochem Rudersdorf, ist gerade in der Edition Bonn-Venedig erschienen. Es ist als Teil des Gesamtarchivs Mirandas von 63 Bänden seit 2007 als Weltdokumentenerbe der UNESCO eingetragen und wird unter dem Namen "Colombeia" von der Academia Nacional de la Hisotria de Venezuela aufbewahrt. Die deutsche Übersetzung des Tagesbuches ist eine kleine Broschüre, wie immer in diesem Verlag ein optisch wie haptisch schönes Büchlein mit historischen Abbildungen, 68 Seiten, davon 12 Seiten (!) Anmerkungen in Kleinstschrift und mit detaillierten Links. Ein ordentlicher Anhang, der zur Folge hatte, dass ich den Text im Lesesessel fläzend las, mit Laptop auf dem Schoß, und die vielen Links in die Lektüre einbeziehen konnte.

De Miranda hat in 9 Tagen nicht nur die gesamte heutige Agenda vorgebildeter Venedigbesucher*innen absolviert, da fehlt nichts an Kirchen, Kunst, Architektur. Er hat zusätzlich noch die damalige VIP-Führung im Arsenale (mit Frühstück) genossen, die Gefängnisse besichtigt, nahm täglich privaten Italienischunterricht, erfreute sich an Abendgesellschaften der venezianischen Elite und selbstverständlich der Gastfreundschaft mehrerer Kurtisanen. Und er besuchte die Aufführungen sämtlicher Theater und Opernhäuser Venedigs, täglich, und wandte sich mit Grausen sowohl von der Bühne als auch dem Publikum. 
Und er beklagt - wie auch Goethe in seinem Tagebuch - den offensichtlich unbeschreiblichen Dreck in der Stadt. Bei Goethe dachte ich noch, na gut, vielleicht im Vergleich zu Weimar... aber de Miranda ist ein welterfahrener, weitgereister Mann vielfältiger Lebenserfahrungen und Urteilsfähigkeit. Seine glaubwürdigen Beschreibungen schmerzen wohlmeinende Leser*innen, immer wieder kommen drastische Details wie z. B. bei der Besichtigung der beiden Säulen auf der Piazzetta: "Aber um sich zur genaueren Betrachtung dieser großartigen massigen Gestalten zu nähern, ist es unumgänglich, sich mit der Scheiße zu beschmutzen, die ihre Postamente bedeckt." Und er ruft desillusioniert: "Bei Gott, wie ist es möglich, dass man im Angesicht derartiger Bauten, wie es sie hier gibt, solchen Unflat hinterlässt!"

Manche Dinge ändern sich glücklicherweise in 200 Jahren, andere wiederholen sich, wie Seuchen und Epidemien. 
Haben wir noch ein wenig Geduld, bleiben wir noch ein bisschen "drin" mit Lesenswertem wie diesem kleinen Buch und anderen Reiseberichten, je älter, desto spannender und ungewöhnlicher. (Notiz für mich: Liste alter Reiseberichte und Tagebücher Venedigreisender inkl. Links schreiben und in den Blog setzen.)



Arturo Michelena 1896
Mirandas letzte Tage im Gefängnis von Cádiz

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6.7. Gazzettino Regole rigide per chi viene dall'estero und PDF Erlass 6.7.
7.7. FAZ Zwangseinweisungen ins Krankenhaus?


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2 Kommentare:

Hannelore hat gesagt…

Liebe Brigitte,
Danke wiederum für Deine umfassenden Infos! Auf der Web-site des Instituto Venezia liest sich das ganz anders:
"...in Venice and Trieste, and in our two regions, there are no more infections and all activities have normally restarted from June 2."
Natürlich zieht es mich auch wieder Richtung Venezia...Besser noch warten und überhaupt... besser zu Hause bleiben.
Grüße von Hannelore

ebbonn hat gesagt…

Liebe Hannelore,
danke für Deinen Kommentar. Die Website des Istituto Venezia ist eher nicht so ganz up to date, wie auch. Der Patient 0 jedenfalls ist gestern verstorben, der Regionalpräsident hat heute einen neuen Erlass veröffentlicht. Kein erneuter Shut down, aber 1000 € Strafe für jedes Vergehen gegen die Quarantäneauflagen, und einreisen dürfen nur noch Menschen aus 36 Ländern (im Prinzip Schengen inkl. GB), siehe Link.
https://www.ilgazzettino.it/nordest/primopiano/coronavirus_ordinanza_regole_paesi-5330542.html und der Text es Erlasses: https://www.ilgazzettino.it/uploads/ckfile/202007/OPGR_2020_07_06_N064_06154514.pdf.
Bleib gesund, beste Grüße!