16. August 2020

Venedig in der Zeitenwende





Seit  6 Monaten wendet sich die Zeit. Wir wissen, wovon sie sich abgewendet hat, und wer auf die Straße geht, um "mein Leben zurück" zu verlangen, hat den Schuss nicht gehört: hier gibts nichts mehr zurück. Wer meint, mitten in einer Pandemie nicht auf eine Urlaubsreise verzichten zu können und sich aktiv an der Verteilung der Seuche beteiligt, kann gerne versuchen, die Reise mit Geschichtsschutz, geschlossenen Clubs und ggfs. Quarantäne ordentlich zu genießen - wer weiss, wie sich Reisen künftig gestalten werden. 

Denn wir wissen nicht, wohin die Zeit sich wenden wird. 
Erfreulich ist, dass für dieses Jahr die Kreuzfahrtschiffe von der großen Unternehmen  wie Costa und MSC sowie Royal Carribean Venedig meiden und Triest, Genua und Ravenna beglücken. Jetzt feiern die Bürgerinitiativen ihren vorläufigen Sieg. Denn offen ist, wie das 2021 sein wird, denn natürlich wird hinter den Kulissen geackert, damit der Hafen Venedig wieder im Spiel ist, mit möglichst noch mehr Besucher*innenzahlen. 
Erfreulich ist, dass sich im Vorfeld der Regionalwahl am 20.9. erneut venezianische Bürger*innen für einen Wechsel engagieren und eine weitere Wählerintitiative gegründet haben: terra e acqua. (Ab 21.8. mit eigenem Radioprogramm, 4 Wochen vor der Wahl.) Der Bürgermeister krallt sich an seinen Stuhl und behauptet angebliche Erfolge seiner Amtszeit, als ob nicht jeder sähe, dass er nur an der Förderung der Touristindustrie interessiert ist.
14.8. Ytali. Brugnaro. Venezia non può più essere affar suo (1) 
14.8. Ytali. Brugnaro. Venezia non può più essere affar suo (2) 
Aber werden nicht wieder die Wähler*innen von Marghera in die Suppe spucken, wie letztes Jahr, als es um die Trennung der Wasser- und Landstädte Venedigs ging?
Erfreulich ist, dass in Venedig offensichtlich Hygieneregeln und -protokolle sorgfältig eingehalten werden, aber das klappt wohl nur, solange weiter sehr wenige Touristen ankommen (und z. B. keine asiatischen Großreisegruppen durch die Stadt gescheucht werden), aber wie lange? Wenn schon jetzt wieder als "Geheimtipp" in allen internationalen Medien gehandelt wird: das leere Venedig! Darf man nicht verpasst haben! Endlich keine Massen! Nun denn - Leute kommen mittlerweile wieder, ohne Atemschutz, fühlen sich als "Entdecker des ganz wahren Venedigs" und wirken als "Influencer" bis der Markusplatz wieder voll und die Chance vertan ist, mit genügend Zeit neue Konzepte für den Venedigourismus zu entwickeln.

Die Zeitenwende ist im Gange, und man kann nur hoffen, dass möglichst viele Menschen in allen Bereichen und auf allen Ebenen ihren Teil der Verantwortung erkennen und wahrnehmen.


Piazza San Marco, 17.8.2012
Quelle: Skyline

Direkt in den ersten Tagen der Schließung ganz Italiens hat sich der venezianische Kulturjournalist und Sachbuchautor Danilo Reato in den leeren Gassen Venedigs umgesehen. Schon nach dem Schrecken des Hochwassersturms am 12.11.2019 hatte er per Mail nach Bonn berichtet. 
Und jetzt haben wir also schon 1/2 Jahr später einen schönen kleinen Band, der uns seine Eindrücke und Bilder des Shut downs vermittelt. Ein bisschen Trost oder eine freundliche Gabe für die, die zur Zeit um ihren Sehnsuchtsort bangen oder ihn nicht besuchen wollen oder können - aus gesundheitlichen, zeitlichen, vernünftigen, oder ehrenwerten Gründen in dieser ungewissen Zeit. Ein Zeugnis der Zeitenwende, deren Ende und Auswirkungen wir derzeit noch nicht ahnen. 

Das leere Venedig. Ein Sehnsuchtsort in der Zeitenwende. Danilo Reato, Edition Bonn-Venedig im Bonner Verlags-Comptoir. ISBN 978-3-947838-05-9, 69 Abbildungen, 56 Seiten, Hardcover, 14 €.


Quelle: Danilo Reato; Das leere Venedig

Für Venedigfreund*innen in Bonn und Umgebung:

Vortrag des Verlegers Arnold E. Maurer "Soziale und wirtschaftliche Probleme im heutigen Venedig", 25.8.18 Uhr im großen Saal der ev. Kirche Adenauerallee 37.

Seitdem es Zentren des “Overtourism” gibt, gehört Venedig dazu: zu viele Touristen, kein funktio-nierendes Leitsystem, auch keine “Online-Voranmeldung” für ein “Zeitfenster” zur Besichtigung. Dann kam Corona und die Stadt konnte “Luft holen”, ein fragiles Venedig wurde sichtbar, das wagemutige Touristen in den ersten Tagen nach Aufhebung der Reisebeschränkungen gleich wieder unbedingt besuchen wollten (wenn es Journalisten waren, haben sie auch gleich darüber geschrieben). Venedig ist wirklich einzigartig, aber wenn man die Schönheit dieser einst im Zusammenspiel ihrer Bewohner funktionierenden Stadt nicht mehr finden kann, weil sie komplett verstellt ist? Ein “noch mehr” an Tourismus kann die Stadt kaum verkraften, dennoch obsiegen die Wirtschaftsinteressen bislang, bürgerliches Leben wird verdrängt, die Bewohner wandern ab, es bleibt die Fassade, die wir alle als Touristen dann bevölkern.
Dr. Arnold E. Maurer, geb. 1952 in Velbert, Studium der Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft, des Fachs Italienisch in Bonn und (Geschichte) in London, Promotion in Vergleichender Literaturwissenschaft mit einem Thema zur venezianisch-deutschsprachigen Literaturbeziehung (zweijähriger Forschungsaufenthalt am Deutschen Studienzentrum in Venedig/ Centro Tedesco di Studi Veneziani), Lehrer an Bonner Schulen, nun – nach der Pensionierung - Verleger von Bonner Verlags-Comptoir/Edition Bonn-Venedig mit Veröffentlichungen im Bereich „populäres Sachbuch“ zu beiden Städten, Autor einiger Beiträge zur Bonner Lokalgeschichte und zum literarischen Italien (u.a. Co-Autor des – auch ins Italienische übersetzten - „Literarischen Führers durch Italien“, von „Venedig. Ein Reisebegleiter“ und „Venedig“ [Anthologie]). Mitglied der Bonner LESE.
Anmeldung unbedingt erforderlich! (lesebonn@web.de), Gäste herzlich willkommen!
Den Vorgaben entsprechend ist die Platzzahl begrenzt. Bitte desinfizieren Sie Ihre Hände vor Betreten des Saales und tragen Sie beim Betreten und Verlassen des Foyers/Saals eine Mund-Nasenmaske.


Siehe auch Einträge
30.1.19 Die Masken der Serenissima vom gleichen Autor
10.8.20 Mehr zur Zukunft Venedigs - Gedanken, Vorschläge, Kritik, Dys- und Utopien
22.3.20 Kristallklar
15.3.20 Stilles Venedig


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2 Kommentare:

J.S. hat gesagt…

Schön , lassen wir die ungeliebten Touristen weg ! Die Industrie stirbt , das Geld bleibt aus und wir sehen Venedig beim totalem Verfall zu. Denn wen , wenn nicht der Tourismusindustrie interessiert der Erhalt (welcher wahrlich nicht günstig ist) der verfallenden Gebäude und wer soll sie finanzieren? Die Welt wird in nächster Zukunft andere Probleme haben (und ich meine NICHT Corona !!!) als ihr Geld in die Stadt zu pumpen! Tourismus ist meiner Meinung nach Venedigs einzige Chance zu überleben , so schlimm es auch klingt. Nicht falsch verstehen, ich liebe die Stadt und kehre jedes Jahr als ungeliebter Touruíst zurück !! Aber man muss eben auch mal realistisch sein !!

ebbonn hat gesagt…

Hallo J.S.,

danke für Deinen Kommentar!
Ich bin Deiner Meinung: die Stadt lebt vom Tourismus. Aber der muss ja nicht so bleiben, wie er ist (Riesenparkplatz auf dem Tronchetto für Busse, die täglich Menschenmassen für ein paar Stunden liefern, danach weiter nach Verona oder Bologna; die Wochenenden, an denen ebenfalls stundenweise 30.000 "Kreuzfahrer" in die Stadt einfallen, mit an Bord verkauften "Exkursionen" etc.), denn DAVON lebt NICHT die Stadt, sondern die internationale Tourismusindustrie.
Das Konsumieren von Klischees auf Seiten der Tourist*innen und die soziale Verarmung der Tourismusstädte gehen parallel. Und um den Tourismus zu verändern, müssen die Städte verändert werden. Wohnraum ist das wichtigste Thema, damit Venedig wieder von Einheimischen bewohnt wird. Nach der Erfahrung des letzten halben Jahres fangen Vermieter*innen an, mit weniger Gewinn an Student*innen zu vermieten. Ein erster kleiner Schritt.
Nach der Katastrophe im November 19 und dem Shut down steht eine Menge öffentliches Geld zur Verfügung, das, richtig eingesetzt, ebenfalls ein kleiner erster Schritt ist.
Immer mehr Stiftungen beteiligen sich in der Stadt; die venezianischen Hochschulen vernetzen sich international und stehen relativ gut in Rankings; immer mehr junge Leute wagen Start ups, weil sie in Venedig leben wollen...
Abhängig ist alles von der politischen Führung der Stadt, die solchen Vorstellungen in den letzten Jahrzehnten entgegen gearbeitet hat. Das alles finde ich so kompliziert und frustrierend, dass ich die Schulter zucken und die Sache auf sich beruhen lassen möchte. Ach.
Und ich teile auch Deinen Appell, realistisch zu sein: Corona ist nur das kurzfristige Problem. Langfristig (also eher ziemlich bald) wird Venedig nicht dem Meeresspiegel standhalten, das ist wissenschaftlich keine Frage.

O VENICE! Venice! when thy marble walls
Are level with the waters, there shall be
A cry of nations o’er thy sunken halls,
A loud lament along the sweeping sea! (Lord Byron)

Aber bis dahin wird noch ein bisschen probiert, was geht. Oder eben nicht. Wir können ja nicht vom Rand der Erdscheibe runterspringen.

Herzliche Grüße
Brigitte