9. März 2021

Eine Frage der Prioritäten

 

Dante und Vergil vor dem Cimitero von Venedig
siehe auch "Dante und Vergil in der Lagune"


Seit gestern gehört Venezien, und damit Venedig, wieder zu den "orangen Zonen" Italiens, vorläufig bis zum 6. April. Das sind die "orangen" Regeln:




Ausgangssperre ist von 22.00 bis 05.00 Uhr
Reisen zwischen einzelnen Regionen und Städten sind nur erlaubt aus wichtigen Gründen
Bars und Restaurants sind geschlossen
Mitnehmen von Mahlzeiten ist an allen Orten gestattet bis 22 Uhr
Essenlieferung nach Hause ist unbegrenzt
Einzelhandelsgeschäfte an Wochenenden, Feiertagen und Tagen vor Feiertagen geschlossen mit Ausnahme von Apotheken, Drogerien, Supermärkten, Tabak- und Zeitungsläden
Museen, Kinos, Theater und Schwimmbäder bleiben geschlossen
ÖPNV darf nur bis 50 % besetzt werden


Meine Vermieterin mailt, das läge nur an Padua, Treviso und Verona - Venedig müsste es ausbaden. Denn gerade Venedig sei wieder besonders beliebt bei Tourist*innen. Ursachen und Wirkungen dahingestellt, Venedig war in den letzten Wochen und vor allem Wochenenden wieder überlaufen, Parkhäuser ausgebucht, Staus auf der Ponte della Libertà. Während der zuletzt kurzen Zeit der "gelben Zone" hatten Italiener*innen und vor allem Bewohner*innen des Veneto Venedig weitgehend für sich und nutzten die Gelegenheit. Die Verantwortlichen der Museen waren begeistert vom heftigen Kunstbedürfnis und verlängerten spontan Öffnungszeiten. Nun ist wieder alles zurückgeworfen auf die Onlineangebote der Kultureinrichtungen. 

Wer wann Venedig betritt und sich wo wie lange aufhält weiss man dank des Controll Center auf dem Tronchetto ganz genau. Man weiss auch, dass die Zahl ausländischer Besucher*innen wieder zunimmt, insbesondere aus Frankreich, Spanien, Deutschland. Mitte Februar zum Beispiel, genauer am Wochenende 13./14.2., waren es 2.200 "Ausländer", die in den Massen zu Vor-Covid-Zeiten den Venezianer*innen niemals aufgefallen wären, jetzt aber neben der elektronischen Überwachung auch dem nackten Auge, einfach durch ihren touristischen Schlendergang.
Die Lokalmedien wundern sich mit den Einheimischen dass sie den Bewegungs- und Besuchseinschränkungen der diversen Zonen unterliegen, Europäer*innen aber munter grenzüberschreitend reisen dürfen? Obwohl Spassreisen eigentlich von den meisten Ländern nicht vorgesehen sind, derzeit?

Hinweise des Auswärtigen Amtes zu Italienreisen, Stand 9.3. (wird mit aktuellem Datum upgedatet.)

Das liegt an der Freizügigkeit innerhalb der EU, die Reisen innerhalb der Mitgliedstaaten nicht verbieten, sondern nur Warnungen (siehe Deutschland) und "Entmutigungen" aussprechen kann (Frankreich: "Aufgrund der aktiven Verbreitung des Covid-19-Virus und all seiner Varianten sind alle Bewegungen von Frankreich ins Ausland völlig und streng nicht empfohlen."). Frankreich formuliert weiter: "Die Einreise nach Italien ist durch Vorlage des negativen Ergebnisses eines molekularen oder antigenen Tests, der in den 48 Stunden vor der Abreise durchgeführt wurde, gestattet". Andernfalls müssen "Reisende eine 14tägige Quarantäne in Italien durchführen". Wegen dieser Quarantäneoption dürfen Fluggesellschaften den Passagieren ohne vorliegendes Testergebnis nicht den Transport verweigern. In diesem Fall sind einreisende Passagiere verpflichtet, sich zur Quarantäne bei der regionalen Gesundheitsbehörde zu melden, die ihrerseits dem Gesundheitsministerium meldepflichtig ist. 
Als Regel für alle EU-Länder gilt dann die "treuhänderische Isolation" unter Überwachung der zuständigen Gesundheitsbehörde und der Vorlage einer "Selbsterklärung" die eine Reise ohne dringende Motivation ermöglicht, unabhängig von den länderinternen Bewegungseinschränkungen der EU-Mitglieder. Wer so aus Berlin oder Paris in Venedig einreist, darf sich innerhalb der Grenzen der Metropole Venedig frei bewegen, ein Paduaner oder eine Veronesin darf in die orange Zone Venedig gar nicht erst rein.

Ich bin seit 16 Monaten zuhause und nicht unterwegs und würde gerne wieder reisen. Aber ich gehöre zu den Privilegierten, die alle Pflichten erledigt haben, ihre eigene Gesellschaft vorziehen und sich ihrer Bibliothek erfreuen, die eine lange interessante Selbstisolation garantiert. Bis es denn irgendwann mit der Impfung klappen sollte. Also ich jammere nicht, ich beneide niemanden.
Und ich habe die derzeitigen Einreiseverfahren in Venedig nicht getestet. Aber wenn an einem Wochenende 2.200 elektronisch gezählte Ausländer*innen in Venedig herumlaufen, kann es mit dem System der negativen Tests, freiwillig angemeldeten und behördlich kontrollierten Quarantänen und den selbsterklärten Reisemotivationen nicht so weit her sein. 

So verbreiten sich Pandemien, oder? Immer wieder von einer Welle zur nächsten. Lockdowns und Grenzen auf und zu, Leute rein und raus. Die Virolog*innen reden sich fusslig, die Regierungen orientieren sich an wirtschaftlichen Interessen, das Volk (Teile davon) sucht Regelungen auszutricksen und Schnippchen zu schlagen. Der nächste komplette Lockdown in Italien grüßt nicht weit entfernt, in Deutschland trifft uns die 3. Welle in Kürze, und zwar hart.
Die Priorität bei der Überwindung einer Pandemie ist doch nicht, sie zu ignorieren und egal zu welchem Preis ein "normales" Leben weiterzuführen, während ringsum Menschen krank sind und sterben. Es geht darum, sie mit allen verfügbaren Mitteln an ihrer Verbreitung zu hindern, indem wir ihr unsere Körper entziehen, die das Virus für seine Vermehrung braucht. Reisen ist ein Luxusproblem, wenn es um viele bedrohte Leben geht. 
Wirtschafts- oder Gesundheitspolitik? Kultur oder Fahrschulen? Schutz der Kinder oder Präsenzunterricht? Reisen oder Leben? Mit den richtigen Prioritäten könnte man aufhören, die Grenzen des Durchhaltevermögens aller Beteiligter auf die Probe zu stellen. 


Ergänzungen

9.3., 3 Stunden später:

Da die Zahl der Infektionen rasant steigt, erfolgt der automatische Eintritt der roten Zone für ganz Italien, sobald 250 Fälle pro 100.000 innerhalb 7 Tagen überschritten werden. Automatisch heisst, die Entscheidung liegt nicht mehr im Ermessen der Regionalregierungen und autonomen Provinzen. 

Veneto wird Rote Zone ab 15.3. bis einschließlich Ostern
Ministerium für Gesundheit: Gültige Regeln für die Roten Zonen
Offizielles Formular der Eigenbescheinigung für notwendige Mobilität in einer roten Zone

12.3. La nuova  Veneto in zona rossa: chiudono le scuole, asili compresi
12.3.The Guardian  Italian government approves strict new Covid measures as cases rise
12.3. Domani Ecco cosa prevede il nuovo decreto: a Pasqua tutta Italia in zona rossa
12.3. Metropolitano.it Pasqua in rosso. Ma con visita ai parenti



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