4. November 2015

Biennale 2015 zum Letzten

"Country"
Vor Toresschluss in weniger als 3 Wochen habe ich noch ein paar Empfehlungen. Viele Nebenausstellungen sind schon zu, es ist gut zu prüfen, ob man aktuelle Pläne und Listen verwendet bei der Planung der Runden durch die Stadt. Ein paar Angebote sind weit vom Schuss, riskieren übersehen zu werden und sollen deshalb hier besonders empfohlen sein.


"Country"
Als erstes: Country, eine Nebenausstellung der Gervasuti Foundation, die jahrelang in dem schönen heruntergekommen Handwerkerhof am Ende der Via Garibaldi ausstellte. Sie hat eine neue ziemlich wilde Location am Ende der Fondamente Nove, im Bereich der Tankstelle links in der Calle lunga Santa. Catarina 4998. Die Ausstellung besteht aus mich sehr beeindruckenden ethnographischen Tondokumenten, Graphiken und persönlichen Gegenständen vor allem aus dem sozialen Umfeld von Frauen-Müttern-Großmüttern australischer Aborigines und berührt im rohen Umfeld dieser Räume umso mehr.


Santa Catarina "An Archeologist's Collection"
Direkt um die Ecke, in der ehemaligen Klosterkirche Santa Catarina, ist "An Archeologist's Collection" von Grisha Bruskin zu sehen. Im März hatte ich schon die Ausstellung "Alefbet" dieses Künstlers empfohlen. Die Kirche ist Teil einer Schule und seit langem außer Gebrauch, zeitweise waren hier Klassencontainer untergebracht, jetzt jedenfalls ist im stockdunklen Kirchenschiff eine historisch-politische Grabung installiert. Wieder einmal eine interessante Nutzung einer dekonsektrierten Kirche! Fondamenta Santa Catarina 4941.


"Food is God"
Noch ein paar Meter weiter, bis zur Fondamenta Zen 4924, im Palazzo Zen, wird als Nebenausstellung der Expo 2015 "Food is God" gezeigt. Es geht um Design von Speisetischen und -gedecken, ein Thema, das mich nicht im Mindesten interessiert. Aber einmal drin, konnte ich mich weder der Ästhetik der Exponate noch der Appetitlichkeit der dazugehörigen Filme entziehen. Nicht mein Thema, aber ein Rausch. Reines Glück, dass ich nicht hungrig war. Es sind außerdem schöne Werkzeuge der Lebensmittel- und Essensherstellung zu sehen, und die Sache ist eine tolle Übung für FotografInnen, extrem ästhetische unbewegliche Motive aufzunehmen.


"Food is God"
Diese 3 Ausstellungen erreicht man in wenigen Minuten von der Haltestelle Fondamente Nove. Ebenfalls von hier ist man schnell am Palazzo Pisani zwischen den Kirchen Miracoli und SS. Giovanni e Paolo, am Ponte delle Erbe. Im obersten Stock liegt (mit sehr schönen Rundblick auf die Nachbarschaft) der Pavillon von Kroatien "The Third Degree. Studies on Shivering". Die Ausstellung ist es wert, vier Etagen hochzuklettern, mit Installationen, Objekten, Filmen, Gedichten. Zum Beispiel:
Then
the picture was taken
where the mountain ridges
surround the resort
at the relaxed side
The picture was taken
of the red Sky
descending
One man said to another:
no gunfire is heard
it is hard to hear anything
the mountain is too high.
I keep the future in the freezer
preserved in the shape
of ice cubes
until the first hot day
I'll keep it there
No gunfire heard.
The sunset was great
The picture was taken
of an ice cube
melting

"The Third Degree. Studies on Shivering"
Vom Palazzo Pisani sind es nur 3 Brücken zum Campo Santa Maria Formosa und von dort nur 1 Brücke zum Palazzo Grimani, den ich jährlich mindestens einmal besuche und unermüdlich empfehle, und trotzdem bin ich immer allein in den wunderbar restaurierten Räumen des 1. Piano nobile. Die Restaurierung wurde seit der Eröffnung 2008 weiter vervollständigt, die wenigen mobilen Ausstellungsstücke (Antiken aus der Sammlung von Giovanni Grimani) werden schon mal umgestellt, aber es sind die prächtige Ausstattung des Palastes, die Marmorportale, die Wand- und Deckengestaltung, die Fußböden, die aus Schimmel und Verrottung gerettet und restauriert wurden und mich begeistern.
(Eintritt 4 €, durch den Bookshop und dann das großartigeTreppenhaus hinten links in die 1. Etage.)


Raumportale im 1. Piano nobile Palazzo Grimani
Ich wusste, dass die Arbeiten auch im 2. Piano nobile vor sich gingen, aber in diesem Jahr gibt es dort die erste Ausstellung, deshalb der Hinweis in diesem Blogeintrag. 

Die Ausstellung "Frontiers Reimagined" ist kostenlos und zu erreichen durch das Treppenhaus vorne links. Schon im Innenhof sind einige Gonginstallationen zu sehen, aber nicht zu hören. Die VenezianerInnen sind geduldig, aber bei den akustischen Begleiterscheinungen der Biennale hört regelmäßig der Spaß auf. Dafür gongt es lieblich und irgendwie interaktiv in der Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit der Tagore Foundation sehr verschiedene spannende Exponate von Gegenwartskunst zeigt und außerdem den Blick schenkt auf die umgebenden Dächer. Und ausserdem wieder: phantastische Leistungen des Restaurierungsteams, vor allem wunderbare Deckenausschmückungen. Bisher erst 2 Flügel der Etage, die Arbeit an den beiden anderen Seiten lässt hoffen. 


Chun Kwang Young "Aggregation 15"
Wer das ehemalige Kloster San Gregorio noch nicht besuchen konnte (nur geöffnet zu seltenen Ausstellungsterminen), hat wieder einmal eine Chance, und ich empfehle, sie wahrzunehmen. Auch wegen der Ausstellung "Marni" die zwar einerseits Marketing für ein Modelabel betreibt, aber andererseits ganz witzig ist und zeigt, wie Kreativität auf einer einfachen, fröhlichen Ebene glücklich machen kann. Auch wegen des 'vorübergehenden' Restaurants "Gusto in Abbazia" das für die Dauer der Biennale hier eingerichtet wurde, im Eckzimmer zum Canal Grande und zur Salute hin. Ist nicht mein persönliches Budget, verleiht aber den bunten Farben der Ausstellung und ihrem begleitenden Meeresrauschen noch einen dritten Sinnesreiz: es duftet gut nach Essen. Und es ist allemal eine ungewöhnliche (und vielleicht nicht zu wiederholende) Lokalität und ein besonderer Rahmen, in Venedig zu speisen. 

Aber man sollte das ehemalige Kloster auch gesehen haben wegen seines schönen Kreuzgangs, wegen einiger schöner Restaurierungsdetails (und eines sehr überflüssigen - der Altana auf der Dachinnenseite, pffff!) und wegen des außergewöhnlichen Blickes auf die Salutekirche und die Mündung des Canal Grande.
Haltestelle Salute.


"Marni" Ex-Abbazia San Gregorio

Kleiner Exkurs in die Giardini, Zentralgebäude, in die "Arena". Wer einmal dort durchläuft (und es herrscht den ganzen Tag reger Durchgangsverkehr), und es passiert gerade nichts, könnte falsche Schlüsse ziehen. Es passiert hier nämlich sehr viel, nach einem festen Programm. Zu Beginn der Biennale lag es gedruckt aus, jetzt gibt nirgendwo mehr ein Blatt Papier. Das Programm steht im www. Auch das jeweilige Tagesprogramm (Datum auswählbar) kann man aufrufen. Weiter kann man  Informationen anklicken über die einzelnen Programmpunkte, deren Aufführungstermine mit Uhrzeiten, sehr wichtig. Als Beispiel hier der Link zu Worksongs, eine musikalische Performance mit 1-2 KünstlerInnen, die ich sehr empfehle, mehrfach gehört/gesehen. Das Werk ist bei jeder Aufführung das gleiche, wird aber durch die SEHR unterschiedlichen ausführenden KünstlerInnen zu jeweils neuen Kunsterlebnissen. Wenn man die Wahl hat, lohnt es sich, wegen dieser 40minütigen Veranstaltung den Besuch der Giardini auf DoFrSaSo zu legen. 


Lisa R. Harris singt "Work Song"


Die Informationen zum jeweiligen Tagesprogramm laufen auch auf einem Monitor im ersten runden Raum des Zentralgebäudes, links oben an der Wand.
Alle diese Veranstaltungen sind im Biennaleeintritt enthalten.



Eine kleine, herausragende Ausstellung möchte ich noch besonders empfehlen, die nichts mit der Biennale zu tun hat, aber auch am Stichtag 22.11. endet:
"GARDENAL" in der Fondazione Bevilacqua La Masa am Markusplatz. Ganz hinten links in der Ecke, wenn man mit dem Rücken zur Basilika S. Marco steht. Neuere abstrakte Werke des Künstlers Luigi Gardenal aus Mestre, die (in den Parterreräumen) von der Laguna Sud inspiriert sind, dessen Umgang mit Farbe umwerfend ist. Die Bilder in der oberen Etage berichten von den Asienreisen Cardenals, sie sind weniger venezianisch, aber nicht weniger beeindruckend. 
Eintritt frei.


Eines der kleinen Formate: Rosso Laguna, 2013
Luigi Gardenal

Wer noch nicht die obere Etage des Palazzo Loredan am Campo S. Stefano mit einer Führung besuchen konnte, hat jetzt die Möglichkeit, auch wenn leider nicht der große Saal in die Ausstellung von Portugal einbezogen ist. In den Bibliotheksräumen zeigt Joao Louro die sitespezifische Installation "I Will Be Your Mirror - Poems and Problems", die wunderbar - kontemplativ und beunruhigend zugleich - in ihr Umfeld passt. 
Der Titel bezieht sich auf ein Stück von Velvet Underground aus den 60er Jahren und es ist schade, dass es nirgends einen kleinen Monitor gibt, auf dem das Stück vorgestellt wird, deshalb hier bitte (auf die oberste Zeile klicken, um in die YouTube-Ansicht zu gelangen):






Die letzte Empfehlung für diese Biennale soll der Pavillon Azerbaijan im Palazzo Garzoni Mora sein. Meines Wissens zum ersten Mal findet eine Ausstellung unmittelbar nach einer großen Renovierung/Restaurierung statt, anstelle der üblichen Vermietung VOR den Renovierungsarbeiten (um nur 2 Bespiele zu nennen: Papadopoli und Soranzo van Axel). Hat sicher auch mit dem Marketing für den anstehenden Verkauf von 8 Apartments im Haus zu tun; zu sehen sind aber nur 2 Etagen der Wohnungen zum Canal Grande, ein kleiner Teil des Eingangsbereiches und eines der Nebentreppenhäuser (die Prachttreppe steht für die 10tausende Füsse der Biennalegäste nicht zur Verfügung). Die Renovierung scheint meiner Laienmeinung von unterschiedlicher Qualität zu sein, aber es sind schöne Balkendecken, Stuck, Freskos zu sehen und natürlich atemberaubende Ausblicke auf die nachbarlichen Dachgärten und den Canal Grande bis hin zu den derzeitigen Baustellen am Rialto. 


Laura Ford "Penguins"
Der Auftritt von Azerbaijan in Venedig ist wieder üppig, berichtet habe ich am 17.7. über "The Union of Fire and Water" im Palazzo Barbaro, nicht berichtet über "Beyond the Line" im kleinen Palazzo Lezze am Campo S. Stefano, wo 8 azerbaijanische Künstler ausstellen. Im Palazzo Garzoni finden sich unter dem Titel "Vita Vitale" 29 (!) internationale KünstlerInnen zusammen, unter ihnen auch 2 Frauen aus Azerbaijan. Verbindendes Thema ist die Umwelt, dazu arbeiten heute viele KünstlerInnen, während vor 20 Jahren für ein deutsches Projekt "Art d'Eco", an dem ich mitarbeitete, nur wenige Überzeugte zu finden waren. Das Publikum war damals hoch interessiert, der Markt und die Kritik rümpften noch die Nasen. Auf dieser erfreulich politischen Biennale gehören Umweltthemen zum Standard, nicht zu den Randerscheinungen. 
Auch nicht zu den Randerscheinungen gehört der Kauf eines Biennaleauftritts für EinzelkünstlerInnen über Galerien und KuratorInnen in Gruppenausstellungen und sogar Nationalpavillons. Es gab im Vorfeld einigen Ärger und Skandälchen und im laufenden Betrieb den Rückzug von einzelnen nationalen Auftritten und vorzeitige Schließungen; kritisiert werden (vor allem etablierte italienische) KuratorInnen wegen der Platzierung von (vor allem chinesischen) KünstlerInnen zum Zwecke der Erhöhung ihres Marktwertes in Asien; Namen von KuratorInnen, KünstlerInnen und betroffenen Nationen wurden in diesem Jahr z. T. offen genannt, bzw. man bekannte sich freimütig dazu

Hintergründe hin oder her - die Exponate im Palazzo Garzoni sind sowohl schlichten Geistes als auch witzig, dramatisch und interessant, die Ausstellung war und ist noch ein paar Tage ein Publikumsrenner. Obwohl man sich eine (großzügig ausgelegte) Mittagspause gönnt, die vielleicht schon manche/n BesucherIn vor verschlossener Tür in enger Gasse veranlasst hat, auf die Besichtigung zu verzichten.
Öffnungszeiten 10-13:30, 14-17:30 Uhr (letzter Einlass)
Haltestellen S. Samuele (Linie 2) und S. Angelo (Linie 1)


Stephanie Quayle "Jenga"


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