4. September 2019

Bettenboom in Mestre - Luxuslogis in Venedig

Baustelle Ca' di Dio

Ein Hotelbett in Mestre steht in der Stadt Venedig. Das ist ein zentraler Punkt des Hotelmarketings von Mestre. Wer Venedig nicht kennt und die Information "in 20 Minuten am Markusplatz" in die Vorstellung umsetzt, ein sehr günstiges Hotel zentral in Venedig zu buchen, erlebt wahrscheinlich eine Enttäuschung. 

Die Stadt Mestre wurde 1926 nach Venedig eingemeindet. Als quasi proletarische Vorstadt der petrochemischen Industrie am Ufer der Lagune, mit ca. halb so vielen Einwohner*innen als damals im 'Centro Storico', also in Venedig, lebten. Die Bevölkerungsstatistik vom Dezember 2018 zählt 260.520 Bürger*innen im gesamten Stadtgebiet (inkl. aller Eingemeindungen), davon  52.996 Bürger*innen in Venedig (ohne Inseln der Lagune) und 116.996 Bürger*innen in Mestre/Marghera. 
Dieser Bevölkerungszuwachs und -wandel ist mit ein Grund für die Kommunalwahlergebnisse (Lega und weitere rechte Konsorten!) und die sich rasant ändernde Rolle Venedigs, die immer mehr als "Museumsviertel" der "Metropolitanstadt Venedig" bestimmt wird: das der finanziellen Verwertung dienende Touristenzentrum am anderen Ende der Brücke. Dessen räumliche Kapazitäten ihre natürlichen Grenzen haben und deshalb einträglicher genutzt werden müssen (Luxussegment!). Aber darüber hinaus leicht erweitert werden können, im "Venedig" an der Landseite der Brücke, in Mestre. Verkehrstechnisch kein Problem mit den Trenitalia-Bahnen vom Bahnhof Mestre nach Venedig-Santa Lucia ohne Zwischenstopp und Bussen von ATCV und ATVO, und, so der Verkehr die Nutzung der Schiene erlaubt, mit der Tram

Mestre entwickelt sich seit Jahren im preiswerten Standardhotelsegment. Die Anzahl der Tagestourist*innen, die mit Reisebussen, Kreuzfahrtschiffen und Ausflugsbooten die Basis des für die Stadt angeblich wirtschaftlich impotenten Rein-und-Raus-Tourismus darstellen, wird damit verstärkt. Das Amt für Tourismus gibt in Kürze einen Flyer heraus, der verstärkt Tourist*innen nach Mestre 'dirigieren' soll. 

Wenige Beispiele illustrieren die Entwicklung: 
zwei AO Hostels existieren seit 2017, 2 Riesenklötze direkt am Bahnhof (und mitten im 'Bahnhofsviertel') von Mestre (lies Absätze "Im günstigen Hostel die Vielfalt Venedigs erleben " und "Unsere AO Hostels in Venedig: Ihre Unterkünfte zum besten Preis").
In direkter Nachbarschaft entlang der Via Ca' Marcello, wurde im Frühling das neue Hotelviertel eröffnet, das nicht-italienische Hotel- und Restaurantketten unter sich aufteilen, deren Segment vor allem Reisegruppen (große Gruppen aus asiatischen Ländern) sind. Ein Hotel neben dem nächsten, zu weit unter venezianischen Zimmerpreisen und das zu Recht, denn hier ist alles Mögliche, aber nicht das 'Traumziel' Venedig.  

In Venedig (also: Centro Storico) wurden weitere alte Gebäude (verkauft und) umgebaut in mehr oder weniger stilvolle Herbergen des Luxussegments. So trennt man die Spreu vom Weizen. Werfen wir einen kleinen Blick!

Soeben, zu Beginn September, eröffnet an den Zattere das Hotel Palazzo Experimental der französischen Hotelkette Eperimental Group. Der spätgotische Palazzo Molin des 15. JH, vormals im Besitz der Unternehmerfamilie Stucky, war seit 1932 Sitz der ehemaligen Compagnia Adriatica di Navigazione. Wunderbare Fotos des Palazzo zeigt BlueOscar auf seinem Blog.
Ergänzung 30.0.: Dezeen berichtet in der heutigen Ausgabe über die Innenausstattung des Experimental.

Ebenfalls in französische Hände wechselt das traditionelle 5* Hotel Cipriani auf der Giudecca. Es wird von der Gruppe LVMH übernommen, die in Venedig bereits mit Luxusgeschäften wie Louis Vuitton vertreten ist, aber besondere Bedeutung vor allem für Shopping-Tourist*innen hat durch den "T-Fondaco" im ehemaligen Fondacco dei Tedeschi.

Auf dem Gelände der Ex-Gasometers westlich von San Francesco della Vigna plant die Immobiliengruppe MTK (Wien) Luxusapartments "im Stil von Londons King's Cross". Ursprünglich war die Idee, ein Luxushotel zu bauen, zusätzlich aufgewertet durch die Marina an der Laguna Nord direkt vor der Hoteltür und mit dem Vorzug einer luxuriös-ruhigen Lage ohne Durchgangslauferei des Tagestourismus. Informationen dazu sind von 2018, ich finde keine neueren Informationen, ob es definitiv Apartments oder vielleicht doch ein Hotel geben wird.
Das Kloster und ein Gymnasium als Nachbarn und ein bisher noch relativ privates venezianisches Viertel im Hintergrund müssen die neue Nachbarschaft hinnehmen, wenn es soweit ist. In der Planung ist deshalb enthalten die vertragliche Vereinbarung, der Schule eine bisher nicht vorhandene Sporthalle zu bauen. Damit hat die Schule nicht nur die ehemalige Kirche S. Giustina als herausragende Aula, sondern auch eine Sporthalle mit vermutlich allem Zipp und Zapp. Auch die barrierefreie Renovierung der Brücke über den Rio di S. Giustina gehört zur Planung der Luxusanlage.
Vor einem guten Jahr wurde der Vertrag zur ökologischen Sanierung des Areals geschlossen. Bei den Arbeiten wird man vermutlich auf menschliche Überreste stoßen, denn auf diesem Gelände bestattete zu Zeiten der Serenissima die Bruderschaft der 'Picai', die Scuola di San Fantin, die Körper der Hingerichteten.
Ergänzung 11.3.20: 
Bei den Bauarbeiten wurde auf dem Geländer der Gasometer die Vera da Pozzo wiedergefunden, die früher vor der Kirche stand (Google Übersetzung möglich).

Ein weiteres Hilton-5*-Luxushotel soll auf dem Gelände des ehemaligen botanischen Gartens hinter S. Giobbe entstehen, das dann zusammen mit dem Hotel Molino Stucky auf der Giudecca und dem Hotel Sagredo am Canal Grande den venezianischen 5*-Hilton-Pool bilden soll. 
Für den riesigen, lange stillgelegten botanischen Garten war eine Nutzung von 130 Apartments und Wohnungen, 20 % ausschließlich für venezianische Familien, geplant. Vorgesehen war auch die Erhaltung eines Teils des Parks und ein Gebäude zur öffentlichen Nutzung, z. B. für eine Schule. Daraus wird nichts, das Gelände wurde von Unternehmen aus Apulien und Kalabrien gekauft und soll nun ertragreicheren Zwecken zugeführt werden. So soll man sich das vorstellen
Im April noch liessen Stadtverwaltung und Bürgermeister Brugnaro wissen, dass es für das geplante 230-Zimmer-Projekt keine Sondergenehmigung gäbe, bzw. wenig Spielraum dafür... aber die x-fache Erfahrung lehrt ja, wie das mit den Genehmigungen geht in Venedig, wenn alle Interessen endgültig abgewogen wurden. 
Der Rektor der Universität Ca' Foscari meldet Interesse am ehemaligen botanischen Garten an, der ja direkt neben der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (im ehemaligen Schlachthaus bei San Giobbe) liegt. Er würde dort gerne eine Business School einrichten... Ob ihm die apulischen und kalabrischen Besitzer das Gelände wohl günstig verkaufen?! Warten wir die Sache ab.

Ein weiterer Palazzo zwischen Guggenheim und Salute ist mit dem Axel Hotel Venice seit Beginn dieses Jahres Teil der U.S. amerikanischen Sonders and Beach Hotelgruppe. Geboten ist 'nur' 4*Luxus, aber ihre Axel-Hotels nur für Erwachsene sind an die anspruchsvolle internationale Zielgruppe LGBTQ gerichtet, gehört also auch zum Luxussegment. 

Auch Murano hat seit Mai ein 4.5*Hotel, das Hyatt Centric. 119 Zimmer in einer der ehemaligen, stillgelegten Glasbläsereien. Die Konvertierung und der vielen alten Industriestrukturen auf Murano folgen (siehe auch Eintrag vom 13.1.16: "S. Chiara in Murano").

Bereits für Ende 2018 hatte die italienische Salute Hospitality Group die Eröffnung des 5*-Hauses Gran Meliá Ca' di Dio der spanischen Hotelkette Meliá an der Riva Ca' di Dio angekündigt, es gab ziemlich rege Medienbegleitung, da hier ein Altenheim in eine touristische Struktur (mit Schwimmbad!) konvertiert werden sollte. 
Das Gebäude war seit dem 13. JH das vom Kloster San Giorgio Maggiore unterhaltene Hospiz/Herberge für Pilger (später auch Pilgerinnen) ins Heilige Land, die auf ihre Einschiffung zur 'Pauschalreise' warteten. Die Wartezeit war lang, der Aufenthalt ging ins Geld, manche Reise musste deshalb abgebrochen und manch andere konnte wegen Krankheit oder Tod nicht angetreten werden. In unmittelbarer Nähe des Ca' di Dio gab es quasi als Ersatz Kirche und Kloster San Sepolcro (Kirche ist abgerissen, Kloster ist die heutige Kaserne Caserma Cornoldi). Auch San Zaccaria, eine Brücke weiter, bot als Ersatz für den wirklichen Besuch des Heiligen Grabes in Jerusalem ein "Sepulcrum Domini" an, das leider nicht mehr existiert. 
Im Juni war die Baustelle aber noch eingerüstet. Recherche ergibt, dass im September 2018 war die Arbeiten ruhten, Rechnung ungezahlt waren, die Stadtverwaltung besorgt. Neuere Informationen sind derzeit nicht zu finden. (Siehe Foto oben.)

Vor 10 Jahren verkaufte die Universität IUAV ihr Gebäude Palazzo Pemma Zambelli am Campo San Giacomo dall' Orio für über 7 Mio. €, das Gebäude wurde renoviert und die Eröffnung des 4*-Hotels Aquarius der Choice Hotelkette ist wohl demnächst zu erwarten. Auch ein Haus mit nur 28 Zimmern und 5 Apartments dürfte dem bis jetzt noch volkstümlichen Campo (von Schulklassen bepflanzte Baumscheiben, viel Kinderspiel und Nachbarschaftsleben um die Kirche herum) eine empfindliche Veränderung zufügen.

Der wunderbare, aber erschreckend heruntergekommene Palazzo Donà Giovanelli bei Santa Fosca wurde von New World China Land gekauft. Bis vor ca. 10 Jahren hatte im Garten des ewig leerstehenden Palazzos noch ein Bildhauer/Steinmetz seine mit Ausstellungstücken vollgestopfe Werkstatt, bis auch er aufgab.
Für 2022 ist (nach anstehender Restaurierung) die Eröffnung des Rosewood Venice geplant, das zur Luxushotelkette Rosewood gehört. Man darf gespannt sein, denn die Pressemeldung wurde im www mit diversen Öffnungsterminen von 2020-22 veröffentlicht - und bisher gibt es keine Anzeichen von Renovierungsarbeiten (siehe unten Foto vom Juni 2019). 

Palazzo Donà Giovanelli


Es gibt weitere, z. T. ziemlich hochfliegende Planungen und Projekte im Luxushotelbereich, die sich via Twitter oder Newsletters in meinem Computer angesammelt haben. Mehr davon demnächst.

(Ich möchte betonen, dass dieser Eintrag nicht als Werbung verstanden werden soll. Ich habe keinen Kontakt zu diesen Häusern und war nicht, wie von Reiseblogger*inen oder -journalist*innen manchmal zu lesen ist, kostenlose Nutznießerin des tollen Luxus.)

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1 Kommentar:

Angela hat gesagt…

Liebe Brigitte,

Dein ganzer Artikel macht Venedigfreunde wie mich einfach nur sprachlos und auch wütend.
Aber ich fürchte, wir müssen tatenlos zusehen, wie das so weiter geht und unsere Bemühungen, "venedigverträglich" zu reisen und zu wohnen, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ab nächster Woche werden wir z.B. für eine Woche im Sestiere San Polo wohnen, in einer Wohnung, die zwar über airbnb angeboten wird, aber eine einzelne Wohnung im Haus der Mutter der Vermieterin ist. Da gehe ich davon aus, nichts für die Stadt Schädigendes zu tun.
Direkt um die Ecke liegt mein Lieblings-Campo, der Campo San Giacomo dall´Orio, wo es ja dann auch bald nicht mehr so beschaulich zugehen wird. Einfach nur traurig!
Etwas tröstet mich der Gedanke, dass gerade deswegen Venedig Besucher wie uns braucht, die immer wieder kommen, weil sie die Stadt lieben und auch gerne Geld dort lassen - in welcher Form auch immer.

Liebe Grüße

Angela