Neueste Führung für Fortgeschrittene - postindustrielle Giudecca
Residenza Universitaria Junghans |
Die postindustrielle Giudecca ist kein Thema, das jede*n (romantische*n) Venedigfreund*in aus dem Sessel reißt. Trotzdem - die Angebote von IVESER (Venezianisches Institut für die Geschichte des Widerstands und die Gegenwartsgesellschaft) bieten als einzige Zugang zu Themen der jüngeren Geschichte Venedigs und müssen deshalb genutzt werden, aus meiner Sicht.
Die Führung "Nach den Fabriken. Spaziergang zu den postindustriellen Stätten der Giudecca" im September 2018 war herausragend in Qualität und Informationsgehalt, mit einem tollen Konzept. Das nämlich bestand in einem Exkursionsführer (Historiker), der themenübergreifend für den Eingangsvortrag und die Begleitung der Gruppe zuständig war, plus Fachleuten, die an jeder Station des Spaziergangs dazukamen: ex-Arbeiter, ein Unternehmer und eine Angestellte, ehemalige und derzeitige Bewohner*innen. Die meisten gingen nach ihrem Vortrag weiter mit und man konnten so während des 3,5stündigen (!) Spaziergangs vom Westen bis fast zum Ostende der Giudecca vertiefende Gespräche mit ihnen führen.
Wie schon unter dem Link oben zu sehen, war das Programm, von dem ich berichte (aber das ich nicht referiere, das Führungserlebnis kann ein kleiner Bericht nicht ersetzen)
1. Molino Stucky
2. Fabbrica della birra
3. Herion / Cosma e Damiano
4. Junghans
5. Cnomv
6. Ville Hériot
und startete also an der ehemaligen Stucky-Mühle und Nudelfabrik (Film steht leider nicht mehr in der ARTE-Mediathek).
Ein dominantes Industriedenkmal, das (aus meiner Sicht: unpassend, zu groß, zu nordisch) in Venedig steht, aber nun mal dazugehört; in dem das Hilton seinen Sitz hat, das ich nicht verlinke (wer die Cookies will, kann sie selber laden). Den Brand des im Bau befindlichen Hoteltraktes habe ich am 15.4.2003, zufällig bei Nico auf der Terrasse ein Eis essend, staunend miterlebt: erst kleine, dann riesige Rauchschwaden aber kaum Flammen, stundenlange Löscharbeiten der venezianischen Wasserpolizei und mehrerer Hubschrauber, Sperrung des Canale della Giudecca. Danach hatten sich praktischerweise die Denkmalschutzauflagen für das Hilton erledigt und man konnte sozusagen bauen, wie man gewollt hatte.
Stucky / Hilton |
Der Einführungsvortrag vor dem Hotelportal wurde zeitweise akustisch überlagert von US-Gästen, die sich mit massigen Rollkoffern und hemmungsloser Lautstärke am Hotel in Wassertaxis einschifften, auf dem Weg zum Hafen zur ihrer "Kreuzfahrt". Löblich, kein Vaporetto zu benutzen!
Auftritt der ersten lokalen Führerin, eine sehr professionelle Hilton-Öffentlichkeitsarbeiterin, die uns, vorbei an wenigen sichtbaren Resten der Fabrik - großen Metallspolien in der Wand auf dem Weg zu den Fahrstühlen - aufs Dach führte: Dachbar mit Swimmingpool hinter dem Turmgiebel, Blick auf Venedig! Und auf den Hafen. Wer hier vor oder nach seiner "Kreuzfahrt" übernachtet, bekommt einen gerechten Anteil der Brennstoffemissionen der Grandi Navi ab. Danach interessante Darstellung der Stucky-Geschichte, aus Sicht des Hilton, während eines langen Marsches vorbei an Frühstücks- und Speisesäälen, durch Flure des Hotels und sogar die für Gäste nicht zugelassene Verwaltungsabteilung, durch einen kolossalen Doppelballsaal (bescheiden im Format dagegen der napoleonische Ballsaal an der Piazza) und den Innenhof mit der Büste des Firmengründers Giovanni Stucky. Insgesamt ein Einblick, der deutlich über die Erfahrungen von Hilton-Gästen hinausgehen dürfte.
Stucky, Kreuzfahrthafen |
2: Etappe: ehemalige Bierbrauerei, direkt neben dem Stucky und von ähnlicher Optik, da gleicher Architekt. Hier übernahm die Führung ein alter, sehr rüstiger fröhlicher Kommunist, Sohn eines Brauereiarbeiters und einer Brauereiarbeiterin, der mit beeindruckender Eloquenz und Detailkenntnis über die Vergangenheit: Arbeit, Arbeitsorganisation, Arbeitskämpfe und auch Nachbarschaft der in Fabrikswohnungen auf dem Gelände lebenden Arbeiter*innen berichtete. Er hat sein ganzes Leben in dieser Nachbarschaft verbracht und führte auch durch die Sozialsiedlung mit 44 Wohnungen, die die Stadt Venedig 1985-91 in leerstehenden Fabrikbauten und ehemaligen Wohnungen realisierte.
Ex-Brauerei |
Das große Kulturzentrum war (Samstagvormittag und keine aktuelle Nutzung als Biennale-Ausstellungsräume) geschlossen. Die Ausstellungsräume befinden sich in hohen fensterlosen, ein bisschen muffigen Hallen der ehemaligen Brauerei und sind nur für Film- oder sonstige Lichtprojektionen geeignet. Oder bei der diesjährigen Biennale für den Cruising Pavilion. In der Nachbarschaft außerhalb einer Führung herumzulaufen ist möglich, wenn auch die Rücksicht auf die Bewohner*innen das nicht rät, aber ein Besuch der Ausstellungsräume ist vielleicht zur Kunstbiennale ab Mai im Angebot. Dieser Besuch zur Geschichte der Brauerei jedenfalls war ein Gewinn, vor allem durch die engagierte Persönlichkeit des Führers.
Ex-Brauerei, ein letztes Foto vergangenen venezianischen Decors |
3. Etappe: ehemalige Herion-Fabrik in der ex-Kirche Cosmas e Damiano + Kultur- und Wohnzentrum im Gebäudekomplex.
Begleiter in der Kirche war der Geschäftsführer von Serendpt (auszusprechen wie serendipity = engl.: unerwartete, glückliche Entdeckung). Das ist ein Zusammenschluss von Forschungsprojekten und Startups in ganz Venedig, der nach verschiedenen industriellen Nutzungen der Kirche als Produktionsstätte von Herion jetzt seinen Sitz hier hat.
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Kleines Ausstattungsdetail in der Apsis S. Cosmas e Damiano - gibt zu denken! |
Wow. Das war eine Überraschung. Es gibt alte Fotos von Arbeiterinnen an Webstühlen der ehemaligen Herion-Weberei auf mehreren Zwischenetagen, auf denen nicht mehr zu erkennen ist, dass es sich bei den Räumen und ein Kirchenschiff handelt. Jetzt sind die wenigen erhaltenen Reste der Kirchenausstattung und die überlebenden Fresken restauriert und schmücken die Apsis. Das Kirchenschiff wurde mit Glaswänden (ähnlich wie in der Tesa 105 des Arsenale) in Büroräume/Arbeitsplätze untergliedert, die von allen Seiten einsehbar sind. Weitere Räume gibt es im Pfarrhaus hinter der Kirche. Das Projekt startete klein bereits vor 30 Jahren, ist in Erweiterung begriffen (hier auf englisch) und man ist interessiert, weitere Startups zu integrieren und hochqualifizierte Arbeitsplätze zu schaffen. Ein beeindruckender "Arbeitgeber" und ein ermutigendes Projekt jenseits touristischer Dienstleistungen, von dem man Venedig mehr wünscht.
Im wunderschönen Kreuzgang im Schatten der Kirche Cosmas und Damian trat der nächste Führer an, der über die Entwicklung des ehemaligen Klostergebäudekomplexes, in städtischem Besitz seit den 90er Jahren, berichtete. Die Gruppe konnte (endlich mal) zwischen den Säulen des Kreuzgangs entspannt Platz nehmen und war ganz Ohr beim Vortrag, aber visuell sehr abgelenkt von einem zärtlichen felinen Paar, das hinter dem Vortragenden miteinander beschäftigt war. Der arme Referent hatte bereits einen Teil seiner Fassung verloren, weil die ganze Gruppe entzückt mit den Kameras in seine Richtung zielte, dreht sich dann aber zum Glück mal kurz um...!
Wie man schon auf der Karte sehen kann: eine Galerie, Ausstellungsräume (auch regelmäßig Biennale, und nicht nur Nebenevents) in der Sala del Camino, darüberhinaus 12 Kunsthandwerker*innenateliers und -werkstätten, eine Theaterwerkstatt und, wichtig, das Archiv Luigi Nono. Es wurden 24 Sozialwohnungen eingebaut, zu denen auch die Nutzung des großen Gartens gehört, den man vom Kreuzgang aus erreichen kann (deshalb die Verlinkung auf Googlemaps oben, um das große Grüngelände zu zeigen).
Die nächste der 6 Stationen der postindustriellen Wanderung war der große ehemalige Junghans-Komplex. Die Brüder Herion (siehe oben, Cosmas und Damian) gründeten 1878 die erste Produktion von Präzisionsmechanik, in die die deutsche Uhrenfirma einstieg.
Hier trat auf ein echter ehemaliger Junghans-Arbeiter, um nicht zu sagen Malocher, der hier seine Berufsausbildung und dann ein ganzes Arbeitsleben absolvierte. Der Mann erinnert sich an alles und erzählt, wie alle anderen bisher, frei und ohne Spickzettel, vom Arbeitsalltag, den Kollegen, der miterlebten Firmengeschichte und der Schließung, und von dramatischen und witzigen Details. Und lässt Historisches wie die Phase der Kriegsproduktion von Spezialuhren für Zünder und ähnlicher Dinge nicht aus.
Wir ziehen durch das ehemalige Firmengelände, auch hier wohnten neben den Produktionsstätten die Arbeiter*innen und Angestellten. Einige ältere Wohnpalazzi, also Mietwohnungshäuser, sind erhalten, aber nach dem langen Niedergang des Komplexes wurde hier zum Jahrtausendwechsel das moderne "Quartiere Junghans" gebaut. (Siehe dazu 2 deutschsprachige Artikel: "Wo wohnen eigentlich die Venezianer?", Berliner Zeitung vom 16.9.16 und BAUWELT 32/2013 "Junghans auf Giudecca".)
Campo Junghans - rechts eines der alten Junghans-Wohnhäuser |
Der zweite Junghans-Führer ist ein aus Afrika stammender Student, gut gelaunt und kommunikativ sowie derzeit Bewohner des Wohnheims für Studierende, das einen Teil der ehemaligen Büros und Produktionsstätten belegt. Er führt durch das Erdgeschoss der Residenza Universitaria, wo Fotos der Junghans-Geschichte und vielen Arbeitsplätzen jede freie Wandstelle zieren, und der Junghans-Arbeiter erläutert die Fotos im Detail und bricht immer wieder in sozusagen nostalgische Begeisterung aus. (Ich nehme an, das entspricht der Ruhrpott-Nostalgie vom Arbeitsglück und Zusammenhalt unter Tage in Erinnerung eigentlich grauenhafter Arbeitsbedingungen...)
Junghans, verkürzter Ex-Fabrikschlot |
Letzter Industriestandort der Agenda: der Komplex der CNOMV, sozusagen der ehemalige marine städtische Bauhof Venedigs. Jetzt die Marina della Giudecca mit einem Bootsparkhaus für 460 Boote bis 20 m Länge, 24/7 geöffnet, computergestützt natürlich. Umgeben von einer Reihe von Fachwerkstätten, in denen von Bootsmotoren bis Holzschiffen alles repariert werden kann, inkl. der Pflege und Instandhaltung historischer Boote. Außerdem gibt es Nautikbedarf, den Ruderverein der Giudecca und ein Restaurant, wie man auf Googlemaps sehen kann. Der hinzugezogene Begleiter war natürlich ein echter Fachmann auf einem Gebiet, von dem ich keine Ahnung und also keinen italienischen Wortschatz habe. Sein Vortrag muss aber sehr interessant gewesen sein, zu urteilen nach der Aufmerksamkeit der Gruppe, die sich immer enger um ihn drängte. Was auch an dem Rabatz einiger Kinder lag, die sich mit einer Art Trailer vergnügten, was zu beobachten mich voll für das entschädigte, was ich sprachlich nicht mitbekam.
Görenvolk in der Marina della Giudecca |
Letzte Station! Villa Hériot, Sitz von IVESER. Ehemalige Residenz eines Industriellen, des französischen Seifen- und Kosmetikproduzenten Hériot, jetzt im städtischen Besitz, mit öffentlicher Bibliothek, Archiv, freundlichen Kolleg*innen. Wir bekamen Wasserflaschen in die Hand und noch eine kurze Geschichte des Hauses bzw. seiner Besitzer verpasst, es war Samstagnachmittag und nicht nur wir Teilnehmer*innen waren nach fast 4 Stunden am Ende unserer Kapazitäten, sondern auch die IVESER-Leute wollten ins Wochenende.
Villa Hériot, Sitz von IVESER |
IVESER bietet in Venedig 7 hochinteressante Rundgänge zur jüngeren Geschichte und Politik Venedigs an. Nicht nur 'alte' venezianische Geschichte ist hochinteressant, sondern auch das, was damals und heute verbindet und ein wichtiger historischer Teil Venedigs ist. Vor allem, wenn es so qualifiziert und engagiert überreicht wird wie bei dieser Führung. Die Führungen finden leider nicht regelmäßig statt. Sie werden auf der Website mit genügendem Vorlauf angekündigt, und auch ich nehme sie in meine Halbjahres-Kulturkalender auf, unter dem Inhaltspunkt "Führungen".
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Hier kann man viel von dem, was ich auf dieser Führung erfahren habe, aus dem Mund Gualtiero Bertellis hören (und sehen), Arbeitersohn von der Giudecca, Musiker und Musikwissenschaftler.
Auch er spricht, wie die Begleiter dieser Führung (außer dem gesamtführenden Historiker von IVESER und natürlich dem afrikanischen Studenten), selbstverständlich kein lupenreines italienisch, sondern ist venezianisch in der Wolle gefärbt.
Und, der Vollständigkeit halber, ist hier seine sehr populäre Musik zu hören:
Der "Architekturführer Venedig" (siehe Eintrag vom 9.6.2014 "Architekturführer Venedig" widmet den Industriebauten bzw. Neubauten von denen in diesem Eintrag die Rede ist, ausführliche 10 Seiten 183-193. Nochmals dringend zu empfehlen!
Lagunenufer der Villa Hériot |
Ergänzung 17.4.2019
Neues vom Projektzentrum SerenDPT (siehe oben, in der ehemaligen Kirche San Cosma e Damiano). Sehr spannend, was sich da an Ideen entwickelt!
21.9. Giudecca, Führung IVESER (Istituto veneziano per la storia della Resistenza e della società contemporanea) "Doppo le fabbriche". Spaziergang durch die postindustrielle Giudecca. Diese Führung (in italienischer Sprache). Online Anmeldung erforderlich. Die Anmeldung ist freigeschaltet am 10.9. ab 7 Uhr. Jeweils nur 3 Personen kann man anmelden, TN-Zahl 25.
Ergänzung 23.6.20
Giudecca industriale (Youtube der Associazione Amici dei Musei e Monumenti Veneziani
Ergänzung 1.11.2020
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