26. Oktober 2013

Ein Wort zu Behinderten in der Kunst


 
Behinderte KünstlerInnen stehen völlig außer Frage. Die Beschäftigung mit künstlerischen Ausdrucksformen gehört heute zur Integration und Kunstwerke behinderter Menschen werden als solche wahrgenommen, ausgestellt, verkauft. Auch im Internet, z. B. unter Insiderart.

Gerade bei dieser Biennale "Il Palazzo encyclopedico" stößt die Obsessivität vieler der ausgestellten KünstlerInnen in bezug auf ihr Thema oder das rituelle Wiederholen ihres Tuns an das, was ich als Selbsttherapie empfinde, auch als eine Abgren-
zung, als Schutz. Ich würde nicht wagen, die Grenze einzu-
schätzen zwischen kreativer Einzigartigkeit und einzigartiger Fokussierung, die möglicherweise zwanghafte Züge trägt.


Die Darstellung behinderter Menschen in der Kunst ist ein ganz anderes Thema. Schwierig. Was man an Alison Lapper sieht, als anerkannte Künstlerin mit Kunsthochschulabschluss einer-
seits und als Thema der Kunst von Marc Quinn. Seit 3 Wochen gehört 'Alison Lapper pregnant' zu meinem täglichen Umfeld, und sie gehört für mich prägend zu diesem Kunstsommer in Venedig.

Ausgerechnet bei diesem Kunstwerk verliert sich die Diskus-
sion, die ich mitbekomme, zum Teil in geschmäcklerischen Fragen der Ästhetik, in vereinzelten Äußerungen, die peinlich an "gesundes Volksempfinden" erinnern. Dass Behinderung an sich in der Kunst kaum thematisiert wird, ist aus meiner Sicht keine Frage der Ästhetik sondern der Ausgrenzung von Behinderung in der Kunst, der Angst vor dem Blick auf das Ungewohnte.


Michel de Montaigne schreibt im 2. Band seiner Essais:
„Was wider die Gewohnheit geschieht, nennen wir wider die Natur. Doch es gibt nichts, überhaupt nichts, was nicht gemäß der Natur geschähe. Lasst uns anhand ihrer univer-
salen Vernunft die abwegige Verblüffung abschütteln, die uns bei ungewohnten Erscheinungen jedes Mal überkommt!“


In Venedig gibt es seit fast 500 Jahren die Skulptur eines Behinderten, der Gobbo vom Rialto. Aus entsprechender Per-
spektive kann man seine Wirbelsäulenkrümmung gut erkennen, sie hat eine praktische Funktion einerseits (sie trägt die kleine Plattform für den Nachrichtenschreier) und gleichzeitig wird dem Behinderten eine gewisse magische Funktion zugewiesen.


Eine andere Darstellung eines behinderten Mannes aus dem 16. Jahrhundert wurde in einem hochinteressanten Forschungsprojekt wissenschaftlich untersucht.


Im Rahmen der Biennale gibt es ein Projekt des Künstlers César Meneghetti, "Io è un altro" (Ich ist ein anderer), das mich überaus beeindruckt hat. Meneghetti stellte mit einer Gruppe behinderter Frauen und Männer Filminstallationen und einen Interviewfilm her, in denen seine ProtagonistInnen sich selbst entspannt und authentisch darstellen. 


Für mich gehört diese Ausstellung zu den wirklich überzeu-
genden dieser Biennale. Der Trailer gibt eine kleine Vorstellung der Arbeit.

Ich empfehle sehr, nach San Servolo zu fahren (Linie 20 ab S. Zaccaria, alle 40 Minuten, also 9:50, 10:30, 11:10, 11:50, 12:30 usw.) und sich die Zeit zu nehmen, das Projekt, vor allem den Film, anzusehen. (Wer über Mittag dort ist, kann für 10 € ein günstiges Mittagessen im Mensa- oder Kantinen-ähnlichen Restaurant hinter den Ausstellungsräumen bekommen, mit Tablett, Warteschlange, Vorspeise, Hauptgang aus Fisch/Fleisch+3 Gemüsen, Salat, Nachtisch, alles inlusive.)


Und ich habe es auch geschafft, das Aufblasen von "Alison Lapper pregnant" zu beobachten, das keineswegs bei Sonnenaufgang stattfand, sondern um 10 Uhr, als ich von einem sehr frühen morgendlichen Besuch der Bibliothek des Museo Correr wieder auf die Insel zurückkam. Da hatte ich wirklich Glück!



Bücher zum Thema

Ergänzung 18.03.2015 
The Guardian: Statues around the world that show disability: share your photos

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