24. März 2013

Palais Lumière - Grauen an der Lagune

Cardin-Möbelgeschäft am Rialto
Vorne: Schreitisch neonorange, hinten Stühle grün/grau
Am Tag der Eröffnung der Architekturbienale in Venedig 2012 ließ der Modeschöpfer Pierre Cardin die Medien über sein Altersprojekt Palais Lumière berichten. Die Pressemitteilung erschien weltweit wortgleich, RedakteurInnen veröffentlichen dergleichen ohne weitere Recherche. Nachdenkliches wurde wenn, dann höflich formuliert. Als ein Beispiel in deutscher Sprache verlinke ich den Bericht des ORF (Text und Audio).

FachjournalistInnen reagierten differenzierter: ArchitektInnen lobten die futuristische Erscheinung und die energetische Selbstversorgung, sozusagen Ökologie in Schönheit. Und die interessante zeitgemäße Ergänzung der "Skyline" Venedigs. Es gab auch kritische Positionen: z. B. Bauwelt 40/41 2012 (inkl. informativer Grafiken).
KulturwissenschaftlerInnen und HistorikerInnen beklagten die Zerstörung des Gesamteindrucks (ohne Verwendung des Wortes 'Skyline') und fragten nach dem Zusammenhang der cardinschen "bewohnbaren Skulptur" mit dem Weltkulturerbe; insgesamt die historische Ignoranz des Projekts.

Mehr Illustrationen zum Projekt: gizmag

Kritische Stimmen schimpften über die architektonische Dubaiisierung. Über die Hybris Pierre Cardins, ein neues Statussymbol (Phallussymbol?) zu installieren, bzw. unter dem Vorwand der Ästhetik und neuer Arbeitsplätze die Geldmaschine Venedig mit anzuheizen. Über den Rat der Stadt, der für schnöden Mammon das Erbe der Vorväter/mütter verschleudert (zu gleichen Zeit lief die Diskussion um die Bennetton-Umbauten im Fondaco dei Tedeschi). Die Universtität IUAV fragte, wie die geplante Modehochschule im Palais Lumière zu den anderen Hochschulen Venedigs passt und insgesamt die Anzahl der Studierenden zu Venedig. Die unsichere Statik im weichen Grund am Lagunenrand. Die Sicherheit in der Einflugschneise von Marco Polo. Die Ökologie insgesamt. Die Geschmacklosig-
keit insgesamt. 


Ausführlich zu den Kritikpunkten: The New York Times, 6.12.2012

Das alles frage ich mich, wie jede/r, natürlich auch. Und ausserdem: 
  • wie leben AkrophobikerInnen, falls sie müssen, in einem solchen Gebäude? Mit nach außen sich erweiternden Wänden? (Ein paar Jahre meines Lebens litt ich unter Höhenangst - nicht lustig!)
  • Wie lebt man überhaupt in komplett durchsichtigen Wänden? Kauft man sich einen Ferngucker für multiple Zwecke? Entdeckt man seine voyeuristischen Anlagen?
  • Wie ist das, wenn alle fünf Minuten in Augenhöhe oder darunter ein Flugzeug vorbeifliegt? Von rechts nach links, sehr laut?
  • Muss ich mich, falls ich mir wider Erwarten doch ein Apartment im Palais Lumière kaufe, mit Cardin-Möbeln einrichten? (Wie alle anderen BewohnerInnen?) Seit Oktober 2012 gibt es am Rialto das neue Cardin-Möbel-Geschäft. Wohlweislich, kein Jahr zu früh.

    Und die größeren Fragen: 
  • Darf jeder alles tun, weil er es kann? 
  • Darf jeder alles, weil er es bezahlen kann?
  • Dürfen die gewählten VertreterInnen einer Stadt solche Dinge ohne Bürgerbeteiligung entscheiden?
  • Sollte man ihnen ein paar StuttgarterInnen schicken?

Mittlerweile hat man von Projektseite - sehr geschickte Lobbyarbeit! - das Consorzio Promovetro Murano ins Boot geholt, mit einer Vereinbarung, den Palais Lumière nur mit Original Murano Glas im Wert von 20-25 Millionen € auszustatten. Neue Arbeitsplätze, eine neue Gruppe, die den Plan mitträgt. 


Im Sommer 2015 soll der Bau angeblich fertig sein. Man sollte die Campanili von S. Marco und S. Giorgio Maggiore noch einmal besuchen, bevor der Triple-Phallus des Herrn Cardin den Horizont im Westen dominiert.

Wenn Venedig stirbt von Salvatore Settis im Blog von Petra Reski


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