9. August 2016

Jetzt aber! Venedig, die Juden und Europa im Dogenpalast

Aufteilung eines Wohnhauses im Ghetto Nuovo
Alles im grünen Bereich am Dogenpalast bei der Öffnung um 8:30 Uhr am 2.8., ich hoffe weiterhin auf erfolgreiche Vertragsverhandlungen für die MuseumsmitarbeiterInnen, bin aber selbst zu doof, mir auf Anhieb ein korrektes Ticket zu kaufen.  Die Preispolitik ist ein bisschen unübersichtlich und wird deshalb kurz erklärt:

Im 19 €-Ticket (voller Preis) für die "Museen der Piazza San Marco", also Dogenpalast und Museum Correr (in dessen Rundgang das Archäologische Museum und die Monumentalsääle der Biblioteca Marciana inbegriffen sind) sind KEINE Sonderausstellungen enthalten. Gleichzeitig mit dem 19 €-Ticket gekauft, kommt man zum Spottpreis von zusätzlichen 2 € in die Sonderausstellung "Venedig, die Juden und Europa". Separat gekauft, zahlt man für die Sonderausstellung 12 €, aber ich vermute, dass man für diese 12 € auch den regulären Rundgang durch den Dogenpalast absolvieren kann. 

Davon werden BesucherInnen, die 'Venedig, die Juden und Europa' komplett und konzentriert absolviert haben, allerdings kaum Gebrauch machen. Steh- und Aufnahmevermögen sind nach der Ausstellung am Ende und müssen erst ein paar Stündchen restauriert werden.

Ich war vergleichsweise gut auf das Thema vorbereitet durch mehrere Bücher, Internetrecherchen, einen Blogeintrag zum Ghetto und einen weiteren zur Werbung für diese Ausstellung sowie einige Besuche im Ghetto und im Sestiere Cannaregio insgesamt und wurde trotzdem überrascht durch viele neue Informationen. 


Giuseppe Paolini (1609
Plan für die Mülleinsammlung im Ghetto Nuovo
Die Ausstellung ist chronologisch aufgebaut - in die Zeit vor dem Ghetto; die Gründung und Erweiterungen des historischen, dreiteiligen Ghettos im Zusammenhang mit den Zuwanderungswellen von Juden aus Nord-, West- und Osteuropa; die Entwicklung der religiösen, intellektuellen und wirtschaftlichen Multikultur der jüdischen Bevölkerung Venedigs; die Auflösung des Ghettos im 18./19. JH und seine Geschichte im 20. JH - und beschränkt sich jeweils auf wenige Details, sozusagen als Beispiele für die Vielfalt jüdisch-venezianischer Kultur in ihrer langen Existenzdauer von 500 Jahren. Trotz oder besser wegen der Beispielhaftigkeit der Themen in den 11 Ausstellungsräumen schürfen die Darstellungen und ihre Begleittexte, Videos, ausgestellten Dokumente, Objekte und Kunstwerke ziemlich tief und entsprechend kann der/die interessierte BesucherIn einsteigen.

Die Ausstellung profitiert natürlich wieder von den Ressourcen der Archive, Bibliotheken und Museen in Venedig wie im letzten Jahr die Ausstellung "Wasser und Nahrung in Venedig" (die weiterhin herausragt und auch jetzt nicht übertroffen wird). Es sind einige Kunstwerke dabei, die man nicht zum ersten Mal bewundern darf, wie z. B. der wunderbare De Barbari-Plan von 1500, der asketische Doge Leonardo Loredan von Carpaccio mit Insel S. Giorgio Maggiore und seinem Zypressenkloster im Hintergrund; aber auch Leihgaben z. B. der Pinacoteca di Brera oder dem Louvre.

Im Nachhinein wundere ich mich, wie viel von all dem Angelesenen der letzten Monate NICHT in der Ausstellung vorkommt, und wie viel ich trotz Vorwissens neu erfahren oder besser verstanden habe. Trotzdem hinterlässt die Ausstellung bei mir das Gefühl einer Ansammlung von Einzelteilen. Jeder Themenbereich ist für sich hochinteressant, aber die Verknüpfungen liegen nicht unbedingt auf der Hand. Die Mosaiksteine, die das Ausstellungskonzept anbietet, müssen ergänzt werden vor allem durch den Besuch des realen Ghettos in Cannaregio. Dort liegen im Jüdischen Museum und seinem Buchladen, in der Führung durch die Synagogen, in der Galerie der Künstlerin Michal Meron, in den Gassen mit Antiquariaten und dem Schuhmacher, in kosheren Lokalen und in Form von Stolpersteinen Verknüpfungen bereit. Wer sich durch die Ausstellung im Dogenpalast gearbeitet hat, muss diese Erfahrung komplettieren, sonst klappt das Mosaik im Kopf nicht. Umgekehrt natürlich auch: wer das Ghetto besucht, sollte das Angebot der Ausstellung bis zum 13.11. unbedingt nutzen. 


Venezianische Gold-Leder-Tapete, Ende 16./Anf. 17. JH
Genau das sagt dann auch das kleine Begleitbuch, das ich für 14 € im Museumsladen gekauft habe:
"Because the exhibition also addresses the present and the future, it can be seen as an initial survey of the contents of the nascent Jewish Museum (Museo Ebraico) in the Campo di Ghetto. The museum already houses objects, documents, and precious books, but needs to be extended, while the itinerary requires radical redesigning. At the same time the museum has been conceived its visitors to go out and see firsthand the places featured. This approach is based on the theory that the city cannot and must not be "museumified" but, on the contrary, the prime objective of an exhibition like this one, and of the "museum of the city" in general, is to intrigue and stimulate visitors to learn all about the narrated stories by physically exploring the sites and monuments."  
Donatella Calabi, S. 22 f. 
  
Womit ich beim Thema Ausstellungskatalog bin. Immerhin gibt es das hier zitierte Begleitbüchlein, zwar nicht ganz billig für 14 € (144 S., 67 S. meist farbige und meist ganzseitige Abbildungen, 10 Textbeiträge verschiedener AutorInnen), auch in englischer Sprache und erreicht damit endlich mal auch Interessierte, die nicht italienisch sprechen. Soweit löblich und besucherfreundlich.
Der eigentliche Katalog von 536 S. allerdings ist eine Schwarte (pardon, ein Coffee table book), deren Inhalte - wissenschaftliche Aufsätze zur Ausstellung und ziemlich vollständige Abbildung der Exponate, sowie 28 S. Bibliographie - sehr beeindrucken, aber nicht die Buchproduktion. Das Papier ist enorm dick und schwer, die Zeilenabstände meist lächerlich groß, das gebundene Werk ist volumen- und gewichtsmäßig kaum noch transportabel. Mit entsprechendem Material und Layout hätte man die Hälfte, auch bei der Preisgestaltung, einsparen können und das Buch nähme einen annehmbareren Platz in der Bibliothek ein. Den Band gibt es jetzt auf italienisch für 70 € im Museumsshop, ab September auch auf englisch. Er liegt in der Ausstellung auf einer Couch aus, also Gelegenheit, ihn in bequemer Stellung zu prüfen.

Giovanni Andrea dalle Piane (1679-1759)
Vollmond am Sabbath im Ghetto


Ausstellungsbroschüre (4 Seiten PDF)

Der Tagesspiegel 4.9.2016 "500 Jahre Ghetto in Venedig. Die Serenissima und die Juden"




Nachtrag 26.10.2016

In einem längeren Mail vom 24.10.17 hat Wolfgang Wagner sich neben anderen Themen zur Ausstellung geäußert. Mit seiner Erlaubnis (und herzlichem Dank) füge ich seine kurze, aber deutliche Kritik hier ein: 

Vielleicht interessiert Sie noch mein Urteil zur Ausstellung im Dogenpalast. Die Ausstellung zum Ghetto und zu den Juden in Europa fand ich sehr enttäuschend: Einerseits einige aufwändige, gut gemachte und informative interaktive Installationen, zu denen aber jede historische oder soziale Einordnung fehlte, dazu eine unerläuterte Sammlung von Büchern, Dokumenten und Bildern. Keine Gesamtübersicht, keine Hintergrundinformationen (wenn ich nichts übersehen habe). Also: schlecht kuratiert. Da war Ihr Beitrag zum Ghetto wesentlich informativer.


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