5. November 2011

Meine Biennale-Favoriten 2011...

Giardini delle Vergini im Juni (oben) und Oktober (unten)

... sind tatsächlich mal die beiden mit Goldenen Löwen ausge-
zeich
neten.

Ich war begeistert, dass Christoph Schlingen-
sief mit dem d
eutschen Biennale-Beitrag beauftragt wurde, tief bekümmert über seinen Tod und den Verlust seiner kreativen Kraft für uns alle, und habe die Arbeit am deutschen Pavillon im Internet mit Spannung verfolgt.

Eintrag vom 30.6.2010
Eintrag vom 21.8.2010
Eintrag vom 13.2.2011

Die dreigeteilte Ausstellung (Operndorf, mittlerer Ausstellungsraum, Kino) stellt für mich Auszüge seines Werkes vor und nach seinem Tod dar, denn es bleibt ja die Erwartung, dass andere seine Pläne weitertragen.

Das Angebot der Filme im 'Kino' war toll, es gibt ja wenige Möglichkeite
n, sie zu sehen.
Die Schlingensief-Interviews, die im Vorraum des Kinos gezeigt wurden, höchst interessant und unterhaltsam. Der knackig-trockene Ruhrpotthumor Schlingensiefs in Verbindung mit seiner enthusiastischen und emphatischen, authentischen Art ungebremst zu reden, nimmt volle Aufmerksamkeit in Anspruch.


Irritierend fand ich, dass die Kircheninstallation des mittleren Ausstellungsraums vom Publikum offensichtlich als solche wahrgenommen wurde, man nahm Platz in den Bänken, schwieg, produzierte Andacht wie in einer Liturgie, ging schweigend wieder raus.
Leute, das ist eine Ausstellung eines überaus kreativen und potenten Künstlers, eine Lebens-, keine Trauerfeier! Auch wenn es um seine Krankheit zum Tode geht. In Gesprächen (mit Italienern, Amerikanern, Franzosen) hörte ich die Vorstellung, Schlingensief sein ein "schwerer" deutscher Künstler. Das ist so ein Bauchurteil, man fragt aus Höflichkeit nicht genauer nach, was damit gemeint sei. Ich kann es mir nur aus der Betroffenheit über seinen grausam frühen Tod erklären, dass Schlingensiefs verrückte, wilde, maßlose und witzige Züge unbekannt sind oder ausgeblendet werden.

Den Goldenen Löwen für das beste Einzelkunstwerk erhielt Christian Marclay für "The Clock". Wird gezeigt im Arsenale, ganz am Ende der Tana (Seilerei). Leider nur 8 Stunden täglich, zu Beginn der Biennale gab es wohl ein paar 24-Stunden-Aufführungen.


Ein hinreißender Film, dem man mit Worten nicht gerecht werden kann, man muss es mit eigenen Augen sehen. Ich habe mehrere Stunden des Films zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Tagen gesehen, habe mich in den sehr bequemen breiten Sofas gefläzt und war hin und weg.
Eine unglaublich akribische, perfekte Arbeit, die Filmgeschichte, Schnitttechnik, Zusammenstellung von Bildinhalten, Rhythmus, Sprachen, Filmmusik, Szeneneinstellungen etc. etc. als ein höchst unterhaltsames, federleichtes Gesamtkunstwerk genießen lässt.


Die Zeit bei einem Biennalebesuch ist immer zu knapp, aber man sollte sich selbst nicht mit 20 Minuten abspeisen, sondern mindestens die Zeit einplanen, die man sich normalerweise für Filme nimmt. Ich wünschte, ich hätte irgendwann die Möglichkeit, das ganze Werk zu sehen. Ich kann keine öffentliche Uhr mehr sehen, egal wo, ohne sofort an "The Clock" zu denken.
Kgr. Saudi-Arabien: The Black Arch



Ein weiterer Publikumslieblin
g im Arsenale hat mir sehr gefallen: "The Black Arch", erste Biennale-Beteiligung des Königreichs Saudi-Arabien.

Man sollte sich mit d
em spontanen Eindruck von SCHÖN aber nicht zufrieden geben, sondern sich die Zeit nehmen, die vielfältigen sinnlichen Eindrücke des Werkes auf sich kommen zu lassen.


Und ein kleines, zauber-
haftes Video m
it Über-raschungs-
effekt in der Tana: 'Untitled' (Ghost) von Elad Cassry.




Und ein Objekt, das mich sehr begeistert
hat, leider habe ich mir den Namen des/der KünstlerIn nicht notiert: eigentlich ein Haufen Reste und Abfall, aber zusammengefügt zur perfekten Darstellung eines Schiffes in wilder Fahrt. Vielleicht 60 cm lang, steht in der Tana, glasgeschützt, deshalb eine Spiegelung im Bild.

Padiglione Italia, Gianluigi Colin: Presente Storico Cristo morto 1480/Che Guevara morto 1967

Der Padiglione Italia, von der Kritik niedergemacht, ist trotzdem eine Wundertüte - an schlechtem Geschmack auch, aber auch an Werken die stracks ins Herz oder in den Kopf oder sogar in beides einschlagen.

Und es gibt für BesucherInnen den gewissen Spanner-Effekt: wer hat denn die Exponate empfohlen? Der verantwortliche Vittorio Sgarbi hat ja die Auswahl der 200 Exponate anderen Künstlern
überlassen und das ist dann im doppelten Sinne eine exhibitionistische Angelegenheit...
Griechischer Pavillon

Mir gefiel sehr gut in ihrer zurückhaltenden, kontemplativen Strenge die Bearbeitung des griechischen Pavillons.
Diohandi verkleidet den an byzantinische Architektur angelehnten Backste
inbau mit dünnen Holzlatten, über eine schmale Treppe kommt man in das Gebäude, das flach, aber komplett mit Wasser geflutet ist. Ein Steg, nicht breiter als die venezianischen Hochwasserstege, führt durch den Raum. Sehr still bis auf einen hohen pulsierenden Ton, bewegunglos bis auf ein kleines Fließen des Wassers, ohne Farben.

Die Holzverkleidung wurde durch Graffitti verändert: "Sold out" und ein we
iteres, das ich öfters sah, "Anonymous Stateless Immigrants Pavillon". Im Gespräch mit der griechischen 'Aufpasserin' erfuhr ich, dass Diohandi das als persönlichen Angriff versteht und nicht bereit ist, als sozusagen politische Ergänzung ihres Werkes zu deuten. Was ich schade finde bei einer Künstlerin, die eigentlich auch politische Aspekte in ihre Arbeit einbezieht.

Schön geworden sind die Giardini delle Vergini, die zur letzten Biennale künstlerisch als Schlammlandschaft gestaltet worden waren. Niederländische Gärtner haben einen wunderbar wilden Garten eingerichtet, der fraglos in meine Liste der "(nicht) geheimen venezianischen Gärten" aufgenommen werden kann. (Siehe Fotos oben)

Und nun zur ärgerlichsten Ausstellung des Sommers 2011.
Silbernes Abzugsrohr auf S. Giorgio Maggiore

Bei der Biennale 2009 war dies für mich der Pavillon der Ukraine.Link
Es muss ja nicht zu jeder Biennale eine ärgerlichste Ausstellung geben, aber dieses Jahr gewinnt den von mir verliehenen Preis "Warwohlnix" die hochgelobte Installation 'Ascension' des eigentlich (auch von mir) hochverehrten Anish Kapoor in der Palladio-Kirche San Giorgio Maggiore.

Ich weiß nicht, was der Sponsor des Events, die Kaffeefirma Illy, mit dem "Paradox einer Rauchsäule" meint. Die Rauchsäule ist spätestens seit Ka
in und Abel als physikalische Realität bekannt.
Von außen zeigt sich das Werk als großes silbriges Rohr auf dem Kirchendach. In das im Sommer ein Blitz einschlug und die Sache außer Funktion setzte, was man als knallharten Fingerzeig des HERRN hätte verstehen können.


Abzugsrohr, dünne Rauchsäule,
3 von 4 fetten Ventilatoren-
säulen


So betritt man die Kirche und steht sofort mitten in einem unglaublichen fabrikmäßigen Lärm. An den 4 Ecken des ca. 1,60 m hohen Aufbaus der den Rauch prodziert stehen 4 Säulen, die aus jeweils 12 übereinandergetürmten großen Ventilatoren bestehen, die alle gleichzeitig arbeiten. Die sensible palladianische Akkustik verstärkt das laut brummende Technikgeräusch. Die BesucherInnen sprechen nicht miteinander, sie
rufen sich zu.

In der Kuppel über diesem Aufbau hängt das Ende des großen silbrigen Rohrs vom Kirchendach, das man natürlich auf keinem Foto sieht weil es die Illusion von 'Spiritualität' versaut. Es soll das vergleichsweise dünne Rauchfädchen, das natürlich physikalisch und mit Nachhilfe der Ventilatoren aufsteigt (Ascension), aufnehmen.
3 von insgesamt 48 (!) Ventilatoren

Ein Wahnsinnsaufbau mit einem Wahnsinns-
energieaufwand für ein physikalisches Experiment, das jedem Kind, geschweige denn Raucher etc. bekannt ist. Der die Atmosphäre dieses sehr besonderen Gebäudes niedermacht. (Nebenbei: ich möchte nicht wissen, womit dieser Rauch hergestellt wird. Nach 15 Minuten hatte ich ein scharfes Brennen in den Bronchien, das erst im Laufe des Nachmittags wieder nachließ.)
Ich weiß nicht, ob Herr Kapoor die Installation persönlich abgenommen hat. Falls nicht, soll er kommen und sich das ansehen/anhören. Falls doch, sollten er und/oder sein Sponsor Illy Wiedergutmachung für dieses ärgerlich überflüssige und optisch/akustisch unästhetische Projekt leisten, z. B. durch eine spürbare Spende an eine gute venezianische Organisation, vielleicht im Umweltbereich oder an den Archeoclub Venezia, bzw. den Eko Club, der mit Freiwilligen die archäologische Erforschung der Laguneninseln betreibt. (Fällt mir gerade ein, weil ich wieder zu Besuch auf Lazaretto Nuovo war...)

Nach ca. 15 Minuten wurde die Krach-Rauch-Maschine abgeschaltet. Das war wunderbar, aber vermutlich nur für eine kurze Atem- und Schweigepause...


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Link

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